■ Rot-Grün sollte die Steuern auf Aktienkursgewinne erhöhen und das Bankgeheimnis für Zinseinkünfte lockern
: Seltsame Barmherzigkeit

Mehr Reichtum sollte künftig zu mehr Engagement für das Gemeinwohl führen

Vor dem Gesetz seien alle gleich, heißt es. Hierzulande trifft dieser Satz – Zustandsbeschreibung eines Rechtsstaates und politische Maxime gleichermaßen – oft zu. In ganz zentralen Politikbereichen freilich ist es mit der Gleichbehandlung nicht weit her – und zwar vor allem bei dem finanziellen Beitrag, den die einzelnen BürgerInnen für das Gemeinwohl aufbringen. Hier existieren fundamentale Ungerechtigkeiten.

Einige dieser Ungereimtheiten wirft man zur Zeit gerne der rot-grünen Koalition vor, obwohl diese für die Schieflage eigentlich nichts kann. Die ungelösten Fragen haben eine lange Geschichte. Trotzdem müssen die Regierung und gerade die Sozialdemokratie schnell eine Antwort finden. Ein Ansatz ist der Leitantrag für den kommenden SPD-Parteitag, der dafür plädiert, große Vermögen stärker zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzuziehen.

Zu den gröbsten Ausreißern im Steuersystem gehört, dass der Staat bestimmte Einkommen belastet, während er andere großzügig ungeschoren lässt. Abhängig Beschäftigte zahlen ihre Einkommensteuer, die heute bei 23,9 Prozent beginnt. Wer ein Bruttoeinkommen von 40.000 Mark im Jahr erhält, führt als Single nach Abzug der Freibeträge ungefähr 4.500 Mark Steuern ab, damit sich die Gesellschaft Straßen, Kindergärten, Theater und eine Armee leisten kann. Andererseits gibt es Leute, die zahlen für sehr viel größere Einkünfte nichts, absolut nichts an ihr zuständiges Finanzamt. Nicht, weil sie ihre wahren Verhältnisse verschleierten, sondern weil der Staat nichts von ihnen will.

Wer Ende 1992 zum Beispiel 40.000 Mark in VW-Aktien investierte, konnte sie im April dieses Jahres für gut 200.000 Mark verkaufen – und sich glücklich schätzen. Denn Steuern musste der Gewinner für seinen Ertrag nicht abführen. Der Staat verlangt nur dann einen Obolus auf Spekulationen mit Aktien, wenn sie innerhalb eines Jahres nach dem Erwerb wieder verkauft werden. Danach bleibt der Gewinn ungeschmälert – in unserem Beispiel 160.000 Mark.

Eine völlig unsinnige Unterscheidung: Denn sowohl Gehälter als auch Aktienkursgewinne sind Einkommen. Die Ungleichbehandlung lässt sich nur so erklären, dass es unter der konservativen Koalition Konzept war, die Besserverdienenden zu bevorzugen. Außerdem sind die Aktienkursgewinne erst im vergangenen Jahrzehnt so richtig ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Vorher pflegte nur eine kleine Minderheit ihr Geld in Firmenanteilen anzulegen. Spätestens seit dem Börsengang der Telekom wird es immer schicker, Aktionär zu sein. Wenn man Experten glauben darf, nehmen die Zahl der AktionärInnen, die investierten Summen und der Erlös sprunghaft zu. Es ist an der Zeit, das staatliche Abgabensystem den Realitäten anzupassen und auf die neuen Einkommensquellen auszudehnen.

Alle Aktienkursgewinne müssen mit Steuersätzen belastet werden, die dem Vergleich mit normalen Einkommen standhalten. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) denkt bereits laut darüber nach, und auch im Haus von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) weiß man, dass die Belastung des Spekulationsgewinnes steuersystematisch durchaus angezeigt wäre. Läuft eine derartige Reform nun darauf hinaus, Vermögenden einen Anlass zur Kapitalflucht zu bieten? Werden dann die Aktienkonten massenhaft ins Ausland verlagert? Und führt das dazu, dass die öffentliche Hand hinterher weniger Steuern einnimmt als vorher? Wohl kaum. Bestünde die Gefahr tatsächlich, müsste ein guter Teil der Aktiendepots schon ins Ausland verschoben worden sein. Denn schon Eichels Vorgänger Lafontaine setzte durch, dass Spekulationsgewinne nicht nur im ersten halben Jahr, sondern im ersten Jahr versteuert werden müssen. Von größeren Absetzbewegungen können allerdings die Banken nicht berichten. Und die befürchten sie auch nicht.

Das hat seinen Grund. An anderen entscheidenden Finanzplätzen wie New York, London und Paris ist die Besteuerung des Aktienkursgewinns ohne zeitliche Begrenzung völlig normal. Weder die USA noch Großbritannien oder Frankreich befreien die AnlegerInnen zu irgendeinem Zeitpunkt von der Steuerpflicht. Deshalb hätte es für deutsche AktionärInnen wenig Sinn, mit ihren Depots dorthin auszuwandern. Ohne Not leistet sich Deutschland also eine Großzügigkeit, die in Zeiten zu geringer Staatseinnahmen fehl am Platze ist.

Ein weiteres Beispiel für die seltsame Barmherzigkeit gegenüber den Gutverdienenden ist die geringe Besteuerung von Zinsen aus großen Bankguthaben. Das fällt nun auch dem grünen Finanzexperten Klaus Müller und SPD-Fraktionschef Peter Struck auf. Denn eigentlich müssten die KontoinhaberInnen ihre Zinseinkünfte dem Finanzamt offenlegen. Viele tun das aber nicht, weil das Bankgeheimnis ihnen gestattet, den Staat systematisch zu belügen. Die Banken sollten deshalb verpflichtet werden, bei jeder Zinsgutschrift eine Meldung an das für den Empfänger zuständige Heimatfinanzamt zu schicken – egal, ob die Zinsen nun auf einem holländischen oder britischen Konto anfallen. Und europaweit einheitliche Steuersätze würden sowohl die Kapitalflucht weitgehend verhindern als auch die Einnahmen des Staates. Über beides verhandelt die rot-grüne Regierung immerhin mit den anderen europäischen Staaten im Dezember in Helsinki.

Bisher werden die Besserverdienenden zu sehr begünstigt. Das ist unsinnig

Dass der Staat Milde walten lässt gegenüber den bessergestellten Schichten der Bevölkerung, verstehen immer weniger Leute. Sie gewinnen den Eindruck, es sei etwas faul im Staate Deutschland – und sie haben Recht damit. Auch kommt der Appetit beim Essen: Hätten die Rot-Grünen vor der Wahl weniger soziale Gerechtigkeit versprochen, würde man jetzt nicht so viel von ihnen erwarten. Nun aber empfinden zahlreiche WählerInnen die Gerechtigkeitslücke – und quittieren die Regierungspolitik, indem sie sie nicht länger unterstützen.

Die Zeiten sind spannend: Der Individualismus ist gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft auf dem Vormarsch. Doch mit der schlichten Parole „weniger Staat“ lassen sich die neuen Bedürfnisse und Notwendigkeiten nicht in Einklang bringen. Wer am weltweiten Aktienhandel teilnimmt, dort also neue Chancen und Freiheiten nutzt, wird einsehen, dass in der globalisierten Wirtschaft auch neue gesellschaftliche Risiken entstehen. Diese muss der Staat auffangen – unter anderem mit Geld. Den neuen Freiheiten werden neue finanzielle Verpflichtungen gegenüberstehen müssen, denen sich auch die Erfolgreichen nicht entziehen können. Mehr Reichtum verlangt mehr Engagement fürs Gemeinwohl. Dann erst sind alle gleich vor dem Gesetz.

Hannes Koch