Objektiv ankotzen

■ Du musst nicht in den Westen, nur ins Fernsehen: Frank Castorf inszeniert „Heinrich VI. – Das Paradies“ im Prater, medienkritisch

Ach, angeschissen. Da darf ich als Tanzkritikerin mal ausnahmsweise ins Sprechtheater – Shakespeare, Castorf, Rosenkriege 5 – 7, Schauspieler zum Anfassen, im Prater – und dann das: Sie kommen, klagen, kämpfen sich schnaufend durch Familien-Genealogien, und nach einer halben Stunde schwirrt mir der Kopf vor lauter Heinrichs, Mortimers und Verrätern. Nix da mit gemütlichem Zurücklehnen.

Manchmal halten die Schauspieler Bernhard Schütz und Henry Hübchen ein, als müssten sie mühsam rekonstruieren, wen sie gerade spielen. Welcher König bin ich, und wie war das noch mit dem Anspruch auf die Krone? Mein Land, mein Thron, mein Sohn: Im historischen Beschleuniger zerbröselt alles zu unhaltbaren Behauptungen. Sinn lässt sich nicht finden in diesem Gemetzel. Aber wann hatte Gemetzel je einen Sinn?

Auf Castorfs Bühne wird vorzugsweise im Keller des Bühnenbaus gemordet: Da liegt Frankreich. Im roten Licht wird geraucht, getanzt, gekocht und vergiftet und was Franzosen sonst so treiben. Das sieht man mit Glück durch den gläsernen Boden der Bühne und mit Pech nur über einen Monitor, weit weg und undeutlich: Geschichte findet statt, wo eine Kamera läuft. Das versuchen sich in Castorfs „Heinrich VI.“ die revolutionären Massen zu Nutze zu machen. Sie wollen ins Fernsehen, und weil das Studio zum Rotlichtbezirk im Keller gehört, ahnt man: Das geht nicht gut. Anarchie, lehrt der medienkritische Schnellkurs, beginnt mit Winken in die Kamera und endet mit Kotze auf dem Objektiv.

Auch im königlichen Haus geht es nicht appetitlicher zu: Man schmeißt mit Spaghetti und glitscht durch Theaterblut. Der zweite Teil der Geschichte wird zwischen Herd und Couch ausgetragen, als ehelicher Stellungskrieg mit wechselnder Bündnissuche bei armen Verwandten.

Der kleinkarierte Familienmief hält Witz und Spannung mehr zusammen als die schnellen Ortswechsel zu Beginn. „Du musst nicht mehr nach Frankreich, du musst nicht in den Westen“, ruft Heinrich seinen Margareta von Anjou hinterher, als sie wieder mal die Pistole aus dem Kühlschrank nimmt und ohne Abendessen aus dem Haus will. Für einen Augenblick scheint Henry Hübchen seine Rolle als grenznaher Familienvater im Film „Sonnenallee“ mit Heinrich VI. verwechselt zu haben. Oder waren England und Frankreich etwa die ganze Zeit über nur eine Metapher für das Misstrauen zwischen Ost und West unter den Kollegen Schauspielern? Die einen zeigen nun wahrhaft Gefühle, die anderen mokieren sich. Doch wer glaubt, damit bei den Menschen unter der Maske angekommen zu sein, für den haben sie umsonst fast vier Stunden lang erzählt: von der Macht der Klischees und der Ohnmacht der Personen.

Katrin Bettina Müller

Das nächste Mal am 30. und 31. Oktober, jeweils 20 Uhr, Prater, Kastanienallee 7 – 9