Wackerer Gipfelstürmer in Nöten

Der Elbrus im russischen Kaukasus ist mit 5.642 Metern der höchste Berg Europas. Zu Sowjetzeiten war er offizielles Ziel sozialistischer Best-Bergsteiger. Auf ihren Spuren stapfte und schwankte   ■  Klaus-Helge Donath

Einen der Vermissten entdeckte der Rettungstrupp unter der eingestürzten Schneemauer. Doch jede Hilfe kam zu spät. Er war erstickt. Die Rettungsmannschaft seilte den Leichnam an und machte sich auf den Rückmarsch. Überfallartig verwandelte Nebel die Umgebung in eine Waschküche und drückte die Sicht auf wenige Meter. Die Mannschaft stürzte in eine Spalte. „Doch die steif gefrorene Leiche“, erzählt Bergführer Valerij, „legte sich quer über die Öffnung und hielt wie ein Brett.“ Sicher hat er die Geschichte schon x-mal zum Besten gegeben. Bergsteigergarn, kaukasische Lust an makabren Geschichten ? Nicht nur.

Jedes Jahr verschluckt der Elbrus, Europas höchster Berg (5.642 Meter), Dutzende Gipfelstürmer. Im traurigen Rekordjahr 1988 waren es allein 33. Er ist ein einsamer Berg, wie alle Mächtigen, die andere überragen. Die Größe verlieh ihm das Recht, sich ein eigenes Mikroklima zu schaffen. Wärmen sich andere Gipfel des kaukasischen Massivs unter strahlend blauem Himmel, hüllt sich der Mingi-Tau, wie ihn die einheimischen Balkaren auch nennen, in undurchdringlichen Nebel. Manchmal mehrere Tage lang.

In der Nachbarschaft tummeln sich Gipfel, die, wären sie woanders in Europa platziert, jeder für sich Ehrfurcht einflößen würden. 200 ragen über 4.000 Meter hinaus, 15 sind höher als der Mont Blanc, und sieben gehören zur Familie der Fünftausender.

Gestern Alpinismus, heute Kleinkrieg

Das Elbrus-Massiv liegt in der russischen Föderationsrepublik Kabardino-Balkarien, 140 Kilometer von deren Hauptstadt Naltschik entfernt im Baksan-Tal. Früher war es das Zentrum des sowjetischen Alpinismus und Skisports. Heute genießt Ciskaukasien indes den zweifelhaften Ruf, Russlands volatiles Pulverfass zu sein. Schaut man vom Westgipfel nach Nordwesten über satt grüne Wald- und Wiesenteppiche, liegen sich dahinter, in der Hauptstadt der Republik Karatschaio-Tscherkessien, die beiden Ethnien der Karatschaier und Tscherkessen in den Haaren. In Naltschik misstrauen turksprachige Balkaren den Kabardinern, in Ossetien liefern sich Inguschen und Osseten einen Kleinkrieg, während die Tschetschenen diesseits des Höhenzuges auf offener Straße kidnappen, was Lösegeld verspricht.

Wer allein Erholung sucht, meidet die Region. Nur Bergbesessene kommen in den Sommermonaten. Ohnehin entspricht Bergsport nicht dem Zeitgeist des postkommunistischen Russland. Ausdauer, Strapazen, aufgeschobene Begierde, jenes bürgerliche Erfolgsprinzip, das auch dem Bergsteiger nicht ganz fremd sein darf, hat unter Russlands neuen Reichen keine nennenswerte Anhängerschaft gewonnen. Wer es sich leisten kann, hätte es gerne „faschionabel“. Das ist Neurussisch für möglichst mondän und bequem. Damit kann der zentrale Ort Terskol nicht dienen. Dennoch wagte die Lokalverwaltung einen kühnen Vergleich und verlieh dem Tausend-Seelen-Nest das Qualitätsprädikat „Chamonix des Kaukasus“. Die Nomenklatura konnte das bisher nicht überzeugen. Obgleich im Winter der Schnee auf den unendlichen Abfahrten des Elbrus wie Champagner prickeln soll.

Das beste Hotel am Platz, „Tscheget“, versprüht bis heute den spröden Charm eines sowjetischen Halbfertigprodukts. Der ganze Ort erinnert mit seinen verwitterten Hütten, rostzerfressenen Containern und streunenden Hunden, die im Müll nach Fressbarem stöbern, an eine verlassene Goldgräbersiedlung. Die Natur entschädigt für alles. Gletscher, die bis ins Tal hinunter reichen, Föhrenwälder, die duften wie konzentriertes Kräuterbad, und Mineralquellen, kalt und warm, zum Trinken oder Baden. In Europa gibt es nichts Vergleichbares.

Die Standardroute zum Elbrus beginnt in dem Dörfchen Asau in 2.200 Meter Höhe. Doch vor dem Aufstieg sind Ausrüstung und Proviant ins Basislager zu schaffen. Restaurationsbetriebe gibt es nicht, die Versorgung am Berg ist eigene Sache. An der Talstation der Seilbahn deutet der Kabinenwart dezent an, dass er Leute nicht schätze, die Fahrkarten an der Kasse kaufen. Zum Preis von fünf befördert er uns beide dafür allein und außertourlich. Die Kabinentür schließt nicht, die Bodenluke weckt wenig Vertrauen, es quietscht und ächzt. So muss es in den letzten Sekunden der Titanic zugegangen sein. Das Camp Karabaschi am Endpunkt des Sessellifts ist die letzte überdachte Herberge vor dem Gipfel auf 3.600 Meter. Itzhak, der stoische Campwart, verwaltet acht Rundcontainer, die gewaltigen Stürmen trotzen müssen. Eine Kostprobe erhalten wir am gleichen Abend. Schnee- und Hagelsturm drohen unseren Metallkäfig aus der Verankerung zu reißen. Bis vor einem Jahr stand eine weitere Stunde Fußmarsch bergauf noch das höchste Hotel der Welt „Prijut 11“. Eine futuristische Konstruktion aus den 30er-Jahren. 120 Leute hatten dort Platz. „Es ist abgebrannt, die Balkaren haben es angesteckt“, behauptet Sweta, die selbst aus Kabardinien stammt.

Das Unglück war wohl eher ein typischer Fall von Fahrlässigkeit. Die Schuldzuweisung legt indes das fragile Verhältnis der beiden Völker offen, die Stalin gegen ihren Willen in einer Republik zusammenpferchte. Den in der Bergregion siedelnden Balkaren wurde die Rolle des Sündenbocks zugedacht. 1944 wurden sie von Stalin deportiert, obgleich sie nicht so bereitwillig wie die Kabardiner mit den deutschen Invasoren kollaborierten. Die Anklage des NKWD, Vorgänger des KGB, lautete: „Sie haben es nicht vermocht, den Elbrus vor dem Angriff der Faschisten zu verteidigen.“

Der „Ausflug“ der Wehrmacht

Im August 1942 hissten Soldaten des Gebirgsjägerregiments 99 auf dem Elbrus das Hakenkreuz. Der unsportliche „Führer“ quittierte den überflüssigen „Ausflug“ mit einem Tobsuchtsanfall. So die Mär. Vor wenigen Jahren, erzählen Einheimische, wären die eingefrorenen Leichen zweier Gebirgsjäger in einer der zehntausend Gletscherspalten noch zu besichtigen gewesen. Schließlich bescherte eine Lawine den ewigen Frieden. Des „Ausflugs“ gedenkt die sowjetische Seite auf jedem Schritt und Tritt, als hätte hier die berühmte Schlacht am Monte Cassino stattgefunden.

Apropos höchstes Hotel. Mit Superlativen schmierte der Kommunismus die Ideologieproduktion. In sogenannten Massenbesteigungen scheuchte die Partei 2.500 Menschen gleichzeitig den Abhang hinauf. Da sich beim besten Willen so viele Bergenthusiasten selbst in den staatlichen Alpinorganisationen nicht auftreiben ließen, wurden Bestarbeiter, Klempner, Friseurinnen und Verkäuferinnen mit einem viertägigen Urlaub ausgezeichnet. Anscheinend kamen die Rekordhalter an der Arbeitsfront ohne die dringend empfohlene mindestens fünftägige Akklimatisierung aus.

Das Wyssotzyki-Museum, das die Familie des seligen Tschokko Salichanow in Tenekli unterhält, zeigt Fotos der Begehung. Kein einziger Versager ist dort registriert. Wer ist Salichanow? Eine Legende und, selbstverständlich, ein Superlativ! 209-mal erklomm er den Gipfel, das letzte Mal an seinem 110. Geburtstag. Der hoch dekorierte Tschokko gilt als Gründervater des sowjetischen Alpinsports und einer einflussreichen Dynastie. Ein Sohn brachte es bis zum Minister für Jagd- und Forstwesen.

Die Besteigung des Elbrus birgt keine technischen Schwierigkeiten. Das verleitet auch unerfahrenere Wanderer zum überstürzten Gipfelsturm. Einige Stunden, und der Gipfel wird genommen sein. Das täuscht, der Berg treibt ein Doppelspiel. Höhe, Entfernung und plötzliche Wetterumschwünge fordern ihren Tribut. Am ersten Tag steigen wir an den Pastuchow-Felsen, dem einzigen schneefreien Gestein des Südhanges, vorbei bis auf 5.000 Meter in herrlichem Sonnenschein. Der Chef der österreichischen Bergwacht stürzte letztes Jahr an den übereisten Felsen in den Tod. Bei uns indes alles bestens. Auch die Höhe macht kaum zu schaffen. Dem Aufstieg steht nichts im Wege.

Um drei Uhr in der Früh am nächsten Tag brechen wir auf. Auf 5.000 Meter zerrt das Sturmgemisch aus Schnee und Hagel unsäglich an den Kräften. Die Sicht beträgt wenige Meter, Eiskristalle auf der Brille. Vornüber gebeugt versuchen wir dem Wind standzuhalten. Die Kälte zieht durch Mark und Bein. 5.200 Meter, eine vierköpfige Gruppe kommt uns von oben entgegen. „Touristen“ nennen Russen diesen Menschenschlag, der durch Anspruchslosigkeit und extreme Belastungen dem kommunistischen System gegenüber stillen Protest äußerte. Man erkennt sie an den überladenen mannshohen Leinenrucksäcken, die wie Folterinstrumente anmuten, und dem improvisierten gespenstischen Sonnenschutz. Wir kehren um.

Speiseeis auf 3.600 Meter Höhe

In Karabaschi sind inzwischen die Teilnehmer einer Massenbesteigung, der „Elbrussiade“ der Armee eingetroffen. Es geht laut und lärmend zu. Das Unternehmen wird gesponsert von der Aktiengesellschaft „Cholod &ndash“ (Kälte &ndash) aus Pjatigorsk, wo sich Russlands Adel duellierte, um anschließend Verse zu schmieden. Cholods Mitarbeiter laufen mit Gefriertaschen herum und verteilen Speiseeis auf 3.600 Meter. Überhaupt geht es lustig zu. Erst gegen Mitternacht, pünktlich zu unserem zweiten Aufstieg, kippt der letzte singende Barde, vom Wodka hingerafft, vom Hocker.

Wieder 5.000 Meter. Die Luft wird knapp. Angst- und Euphoriegefühle wechseln in Bruchteilen von Sekunden. Die Beine schwer wie Blei. Der Blick hängt steif an den Füßen des Führers, der sich immer weiter entfernt. 5.200 Meter, jeder Schritt ein Willensakt, der Fuß kreist, bevor er Tritt fasst. Nur nicht daneben treten. Es ist hier nicht steil, aber die Kraft würde fehlen, sich wieder aufzurichten. Nur noch die körperlichen Basisfunktionen scheinen zu funktionieren. Der Kopf führt ein dumpfes Eigenleben, das Zeitgefühl schwindet. Schwindel. Es ist bitter kalt gegen 4.30 Uhr. Dennoch hinlegen und ausruhen, auf die Schneefrau warten, deren Kuss von allen Strapazen befreit? Sie soll rothaarig sein, hatte man im Tal erzählt ... Von weit, weit her meldet sich ein Fünkchen Verstand. Ich torkele und stake auf die Stöcke gestützt weiter und flehe bei jedem Schritt um Gnade. 5.300 Meter, der Kopf ist viereckig und steckt im Schraubstock, das Gehirn sucht durch die Ohren das Freie. 5.424 Meter, Pause. Zwischen den Gipfeln fingere ich die Tüte mit Walnüssen aus dem Rucksack. Ich stelle mich an wie ein Kleinkind, das die Motorik noch nicht beherrscht. Die Nüsse rutschen über das Gletschereis, endlos lange, bis sie in einer Spalte verschwinden, gefolgt von meinem Handschuh ...

Einziger Trost: Norgey Tensing, der legendäre Sherpa, der mit Edmund Hillary als erster den Mount Everest bezwang, litt auch an der Höhenkrankheit, als er 1963 aus dem Stand den Elbrus hinaufhüpfen wollte. Der Berg treibt mit jedem sein Spiel.