Die Wahnsinnigmacher

An Werder gibt's grausam wenig rumzumeckern – außer an allem – irgendwie  ■ und überhaupt eine entnervte Liebeserklärung von Jochen Grabler

Sportkamerad Christian hat vollkommen recht. Sportkamerad Christian springt auf, den Schrei der Freude auf den Lippen, doch dann – die Augen weiten sich, die Züge gleiten aus freudiger Erwartung ins schiere Entsetzen, die Hände umfassen den schmerzgepeitschten Schädel, so fährt er sich durchs schütter gewordene Haupthaar, um gleich darauf in den Sitz zurück zu plumpsen und nach einer Zigarette zu fingern, die zittrig in Brand gesteckt wird. Ein tiefer Zug und die Erkenntnis: „Also dazu, dazu bin ich eigentlich zu alt.“ Recht hat der Mann. Man soll eben jenseits der – sagenwirmal – elastischen Frühdreißiger nicht mehr ins Weserstadion gehen, wenn einem die Gesundheit lieb ist. Dass beim Heimspiel nicht schon Krankenwagen warten – das reine Wunder.

Der Mensch ist nämlich für sowas nicht gemacht. Dass sie Spiel um Spiel den Gegner dominieren. Selbst die Freiburger sind in der zweiten Halbzeit nicht aus der eigenen Hälfte rausgekommen. Und für die war's ein Heimspiel. Dass der Ball prima läuft, dass selbst formkrisengebeutelte Zentralkicker wie die Herren Bode und Herzog – jaja, der auch, aber darauf kommen wir gleich noch – mitgeschleift werden können, ohne dass es groß auffällt. Dass es eine rechte Lust ist, dieser Werder-Mannschaft dabei zuzusehen, wie sie aus bedrängtester Situation mit drei, vier, fünf kurzen Stationen das Spielgerät durch das übervölkerte Mittelfeld befördert, ohne dass dieser oder jener Gegenspieler die Chance zum Eingreifen gehabt hätte – und, was noch viel wichtiger ist, sie kriegen den Ball auf demselben Wege auch noch zurück. Dann nämlich, wenn sich vorne keine Lücke auftut und Geduld gefragt ist. Früher haben sie dann ja gerne die Pille blind nach vorne gedonnert. Und postwendend per Gegenangriff zurückgekriegt. Dass dieser ältere dunkelhäutige Mann in der Defensivabteilung immer noch den Mister Cool geben kann, dass es ein Genuss ist. Ein echter Genuss. Kurzum: dass es in Bremen wieder Fussball zu sehen gibt. Fußball! FUßBALL!! Der Spaß macht.

Bloß eben leider auch wahnsinnig. Pizarro wieder: drei-, viermal allein in der ersten Halbzeit. Dann Maximov zweimal, Bode, Herzog, Ailton. Sie schießen diese verdammten Tore nicht. Besonders nicht die, bei denen sie frei vorm gegnerischen Torwart stehen. Dafür kriegen die dann so einen Krepelelfmeter gegen sich, müssen noch von Glück sagen, dass diese Rostocker nicht auch noch einen nachlegen. Weil die haben ja Platz. Weil unsere ja alle Mann stürmen. Und am Ende marmelt Ailton dann die vorletzte, aber garantiert die am allerkompliziertesten zu verwertende Halbchance ins Tor. 2:1, der Fachmann sagt in solchen Momenten gerne „entscheidend ist, was in der Schüssel zappelt“ – bloß in dem Fall sagt er's und verröchelt am Herzklabaster.

Wenn nicht im Spiel, dann eben danach. Dann nämlich schlagen die Statistiker zu. Und wir haben schwarz auf weiß, dass Werder eine absolute Spitzenmannschaft ist – in den Zweikämpfen, im Erarbeiten von Chancen. Die haben sogar die meisten Tore geschossen! Und wir haben schwarz auf weiß, dass dieser Andy Herzog, der am Freitag abend rumgelaufen ist wie Falschgeld, dem kaum was geglückt ist, der wieder mal seine Mitspieler auf Schritt und Tritt angepflaumt hat – jedenfalls, dieser Andy Herzog ist diesen Statistikern von ran einer der besten Spieler auf dem Platz, weil er die meisten Ballkontakte hatte. Sogar in die Mannschaft des Tages ist er gerutscht. An sich ja eine schöne Nachricht – wenn man nicht selber dabei gewesen wäre.

Und uns dieser Herzog nicht wahnsinnig gemacht hätte. Und dieser Pizarro – ach, überhaupt, diese ganze grausame Mannschaft. 2:1! Drei Minuten vor Schluss!! Mal eben so.

Da muss man doch was dran machen können! Da ist doch der Trainer gefordert! Schaaf! Fußball spielen hat er ihnen ja beigebogen, wenn jetzt noch das Toreschießen noch dazukommen könnte ... Ja? Danke! Weil es sonst Opfer gibt. Jenseits der elastischen Frühdreißiger. Aber immer noch in der Blüte des Lebens. Und das wollen wir doch nicht! Sportkamerad Christian ist 35.