Basisarbeit vom Feinsten

■ Das Jugendsinfonieorchester Bremen spielte Tschaikowsky, Grieg und Brandneues der Bremerin Siegrid Ernst aufs Hinreißendste

Aus der kulturellen Basisarbeit in Bremen nicht mehr wegzudenken ist die Konzertreihe für Kinder am Bremer Goetheplatztheater, die das Jugendsinfonieorchester Bremen-Mitte unter der erfahrenen Leitung von Heiner Buhlmann regelmäßig veranstaltet. Fast schon legendär aber ist die Open-air-Reihe, die jährlich 15 - 20.000 meist jugendliche ZuhörerInnen an den lichtüberfluteten Hollersee im Bürgerpark lockt. Es ist dort ein verbindliches Klima entstanden, wo es für Jugendliche geradezu zum guten Ton gehört, dabei zu sein. Kaum etwas kann eine bessere Basis sein dafür, spätere KulturrezipientInnen mit Neugier, Anspruch und Erwartung auszustatten.

Wie sehr es stimmt, dass die sogenannte Hochkultur ohne diese Basis gar nicht leben kann, zeigte jetzt ein geradezu monumentales weiteres Projekt des Jugendsinfonieorchesters: Weil Rückeinladungen gegenüber den zahlreichen Ländern, in denen das Jugendsinfonieorchester in jedem Sommer gastiert hat, nicht möglich gemacht werden konnten, hatte Heiner Buhlmann zum zwanzigjährigen Bestehen des Orchesters die gute Idee, wenigstens einzelne Musiker-Innen einzuladen. Und so kamen aus dreizehn verschiedenen Ländern Scharen von hochbegabten 15- bis 18-jährige, die zusammen mit einem Stamm des JSO zehn Tage Bremen genossen, Kontakte knüpften und in der Hauptsache zehn Stunden pro Tag probten. „Die Konzerte sind gar nicht das Wichtigste, sondern dieses intensive Zusammenleben“, sagt David Maria Gramse, ehemaliger JSO-Geiger, jetzt Student in Lübeck. Er hat die Stimmproben für die zweite Geige geleitet.

Nun soll aber nicht der Eindruck entstehen, es handelte sich um ein Konzert, bei dessen Besprechung auf eine soziologische Argumentation ausgewichen werden müsse, was im Übrigen durchaus legitim wäre. Im Gegenteil. Interpretationen gab es zu hören, die hinreißend waren im instrumentalen Einzelkönnen und im Schwung des Gesamten, im Nuancenreichtum und in der Homogenität – und das zum Beispiel bei einer Besetzung von 18 (!) ersten Geigen. Peter Tschaikowskys riesige fünfte Sinfonie mit ihrem monothematischen Schicksalsthema war also keinesfalls eine Nummer zu groß für ein solches Unterfangen, sondern gerade richtig. Das lag natürlich entscheidend an der klar gliedernden Konzeption und der entsprechenden Zeichengebung von Heiner Buhlmann.

Dann die siebzehnjährige Elena Porokhina aus St. Petersburg, die mit glasklarer Durchsichtigkeit und zielstrebigem Vorwärtsdrang Edvard Griegs Klavierkonzert spielte: Auch das war eine helle Freude. Dem Werk des 25-jährigen Komponisten wurde eine bloße Aneinanderreihung musikalischer Einzelgedanken vorgeworfen, aber genau das machte Elena zur interpretatorischen Qualität. Blitzartig war sie mit dem gut folgenden Orchester in der nächsten Idee des kurzweiligen Stückes.

Es ist ein weiteres Qualitätsmerkmal der Arbeit von Heiner Buhlmann, dass er nicht nur zeitgenössische Musik macht, sondern auch Kompositionsaufträge vergibt. Dieses Mal traf es die Bremer Komponistin Siegrid Ernst, deren „Peace Now“ an diesem Abend seine deutsche Erstaufführung erlebte. Unter dem Titel des ersten Satzes „Klage“ bildet Ernst kleine, fein ausgehorchte Cluster, die sich in ein schmerzhaftes Fortissimo vorschieben. Mit den Sätzen „Aufbruch“ und „Huldigung“ markiert das Werk Protest und Friedenswillen. Die erprobte Klangfantasie der Komponistin in immer neuen Farb- und Strukturzusammenhängen brachten die jungen Leute gut zur Geltung. Leider wirkt das Werk gelegentlich etwas bemüht pädagogisch und einfach. Viel Beifall für die anwesende Siegrid Ernst und heller Jubel für alle anderen Stücke. Heute sind die Jugendlichen – mit viel Tränen, wie ich hörte – auseinandergegangen, sicher mit einer Erfahrung, um die man sie beneiden könnte. In Bremen war sie möglich.

Ute Schalz-Laurenz