Hysterisch nah dran an der Gegenwart

■ Rainald Goetz las im Literaturhaus aus seinem Internet-Tagebuch „Abfall für alle“: ein bisschen überfordert, ein bisschen irritiert, aber kopfzerreißend glücklich über jede Frage

Zunächst findet sich im Reporterblock ein Fragezeichen. Ist Rainald Goetz etwa wirklich auf eine ganz normale Lesung aus?

Der Raum scheint genau das nahezulegen: Im ersten Stock des Literaturhauses in der Fasanenstraße erwartet man nichts anderes als das Schwarzbrot des Literaturbetriebes. Lesungen halt. Und tatsächlich war der unmittelbare Beginn der Veranstaltung am Freitagabend etwas ungewöhnlich. Rainald Goetz, seit drei Jahren in Berlin wohnend, widmete die Lesung WestBam, den Machern des Merve Verlages und dem taz-Autor Detlef Kuhlbrodt „für unsere seltsame, schöne Freundschaft“. Aber dann nahm sie einen ganz normalen Verlauf, zunächst jedenfalls.

Goetz hat eine dunkle, überraschend satte Stimme. Mit der trug er aus „Abfall für alle“ vor, dem Internet-Tagebuch des Jahres 1998, das nun auch zwischen Buchdeckeln erschienen ist. Wie jeder weiß, der im vergangenen Jahr die Webseite www.rainaldgoetz.de angeklickt hat, enthält dieses Tagebuch geradezu unglaublich genau wahrgenommene Alltagsbeobachtungen. Goetz las sie nicht einfach nur vor, sondern schien sie geradezu noch einmal zu erleben, und da es sich in der ersten halben Stunden um eher komödiantische Szenen handelte, herrschte bald beste Laune im Publikum. So weit, so gut.

Blieben die Fragezeichen. Denn natürlich würde einen bei diesem Autor eine normale Lesung enttäuschen, und sei sie auch noch so gut. Aber es kam ja auch tatsächlich anders. Nach einer halben Stunde wollte Rainald Goetz Fragen aus dem Publikum anregen, verhaspelte sich aber dabei, merkte, dass er sich verhaspelt hatte, verhaspelte sich noch viel mehr, kurz: Er kam aus dem Konzept. Noch schöner: Das Publikum fragte wirklich, und Rainald Goetz freute sich wirklich über jede einzelne Frage. Er war plötzlich nicht mehr Teil einer Standardinszenierung des Literaturbetriebes, sondern sah sich Menschen gegenüber, die etwas von ihm wissen wollten. Man merkte ihm seine Irritiertheit und Überforderung an, aber auch sein Interesse: Rainald Goetz war ganz Aufmerksamkeit. Keine Zehntelsekunde des Augenblicks, keinen Aspekt der Situation wollte er verpassen. Eine ganz wunderbare Szene.

Und zugleich die denkbar schönste Illustrierung der Wahrnehmungswut von „Abfall für alle“, dieses Versuches, so Goetz, „hysterisch nah an die Gegenwart heranzugehen“. Im Verlauf der Lesung sagte Goetz den Satz: „Jede Minute passiert so viel, dass es, wenn ich wirklich schreiben würde, was los ist, mir den Kopf zerreißen würde.“ Ein Satz, den man ihn unbedingt glaubt. Dass für diesen Autor jeder gelebte Augenblick vor Wahrnehmungsmöglichkeiten strotzt, zeigte sein Verhalten auf der Lesung. Dass er zugleich die schriftstellerischen Möglichkeiten hat, wenn zwar nicht die ganze Fülle des Moments, aber doch eine ganze Menge davon in seine Texte hinüberzuretten, das zeigten allein schon die Szenen, die er im Literaturhaus las. Während die Texte tagtäglich im Internet standen, hat man sie vielleicht zu sehr inhaltlich als Kommentare zu den ganz alltäglichen Ereignissen (Fernsehprogramm, Kunstausstellungen, Wetter etc.) gelesen. Dahinter steckt aber, das machte spätestens die Lesung klar, ein unglaublicher Beschreibungsehrgeiz und, ja doch: Kunstanspruch. Man wird sich „Abfall für alle“ wohl auch als Buch noch einmal angucken müssen.

Am Schluss der Reporternotizen stehen ungebrochen und möglicherweise naiv drei Wörter: sehr, sehr schön. Daran gibt es auch mit einigem Abstand nichts zu revidieren. Rainald Goetz ist klasse.

Dirk Knipphals