Sehnsucht nach Opposition

■ SPD-Chef Strieder tingelt durch die Bezirke, um die Basis für eine Neuauflage der großen Koalition zu gewinnen. Er hat einen schweren Stand

Kaum hat SPD-Chef Peter Strieder seine Rede beendet, erklingen Buhrufe, erst nur vereinzelt, doch dann stimmen immer mehr Genossen ein. Sonore Männerstimmen – denn ergraute, ältere Herren dominieren die gemeinsame Kreisdelegiertenversammlung der SPD Wilmersdorf und Charlottenburg. Vergeblich mahnt der Wilmersdorfer Kreisvorsitzende und „junge Wilde“ Christian Gaebler „zivile Umgangsformen“ an. Da ruft ein grauhaariger Genosse: „Früher hätten wir sowat ausjepfiffen!“ Strieders Rede, schimpft er, sei substanzlos gewesen.

Ohne Schwung und im Ton defensiv hatte Strieder vorgetragen, was er derzeit fast täglich auf Parteiversammlungen in den Bezirken predigt: Es führt kein Weg vorbei an der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU. Die Wähler erwarteten, dass die SPD weiter mitgestalte, die Mitglieder auch. „Der Traum von der glasklaren Opposition kann nicht gelingen“, warnt Strieder. Eine von der SPD tolerierte CDU-Minderheitsregierung biete der SPD keine Chance, sich zu regenerieren. Und dann spricht Strieder von der „neuen Verantwortung“ gegenüber der rot-grünen Bundesregierung: Eine CDU-Alleinregierung bedeute im Bundesrat eine weitere Stimme gegen Rot-Grün. Im Saal des Charlottenburger Rathauses, in dem die 143 Delegierten wie zu Schulzeiten an hölzernen Schreibbänken sitzen, kommt allmählich Gemurmel und Unruhe auf. Und auch Strieders Appell, die Partei müsse sich wieder auf ihre Grundwerte besinnen und ein klares Leitbild entwickeln, beeindruckt niemanden. Strieder liefert nicht die Lösung oder gar Erlösung, auf die alle warten. Wie soll das Profil der SPD aussehen? Strieders Schlagwort von der „Berlin-Partei“ bleibt unkonkret.

„In Strieders Rede hat die Perspektive gefehlt“, sagt ein Delegierter. Ein anderer sagt: „Ich hatte eine Rede mit dem Motto 'Erneuerung jetzt, Aufbruch jetzt‘ erwartet. Davon war nichts zu spüren.“

Eines ist deutlich: Die von der erneuten Wahlniederlage tief verunsicherten Genossen sehnen sich nach Führung. Einer soll sagen, wo es lang geht – und als Prügelknabe herhalten, wenn die Dinge nicht nach Wunsch laufen.

„Es ist nicht allein Aufgabe der Führung zu sagen, wo es lang geht“, reicht Strieder die Verantwortung an die Basis zurück. Die Debatte über den künftigen Kurs der SPD könne nur gelingen, wenn dies zum Verständigungsprozess für die ganze Partei werde. „Das kann ich euch nicht ersparen, auch nicht mit flammenden Reden.“

Mag sein. Und doch wird man den Eindruck nicht los, als wisse Strieder auch nicht so recht, wie das neue Leitbild aussehen solle. Allenfalls die Komponenten stehen fest: Arbeit schaffen, die Wirtschaft ankurbeln, die Bildungspolitik intensivieren und die soziale Stadtentwicklung fortsetzen. Eine junge Genossin aus Kreuzberg hatte Strieder am Vorabend vorgehalten: „Das ist noch kein Leitbild, das sind nur Themen.“

Und eine weitere entscheidende Frage wirft Strieder auf, ohne eine Antwort darauf zu geben: „Wir brauchen einen Kontrollmechanismus im Senat, damit die CDU-Senatoren das im Koalitionsvertrag Vereinbarte auch umsetzen.“ Tja, aber wie?

Die Fortsetzung der Großen Koalition ist den meisten Rednern spürbar zuwider. Doch in diese emotionale Grundstimmung mischen sich einige rationale Töne. Ein Delegierter, der am Wahlabend noch für den Gang in die Opposition war, berichtet, wie er sich nach nüchterner Betrachtung doch für die Fortsetzung der Großen Koalition entschieden hat. Nicht ohne zu mahnen: „Aber mit anderen Strukturen und anderen Vorgaben.“

Auch so manch anderer hat sich „durchgerungen“, der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zuzustimmen. „Opposition oder Koalition – beides sind beschissene Alternativen“, stellt eine der wenigen jüngeren Genossinnen fest. Der Abend offenbart noch eine weitere sozialdemokratische Sehnsucht: Die PDS-Frage müsse endlich diskutiert werden, fordern gleich mehrere Redner. Dahinter verbirgt sich zum einen die Hoffnung, sich mit Hilfe der PDS aus der „babylonischen Gefangenschaft der CDU“ – so lautet der feststehende Ausdruck in der SPD – befreien zu können. Zum anderen offenbart sich das Bedürfnis nach einem sozialeren Kurs der SPD. So unrealistisch der PDS-Kurs der sozialen Verheißungen sein mag, für manchen Genossen sind es behagliche Reminiszenzen an die SPD-Verteilungspolitik der 70er-Jahre. Die Jüngeren haben ohnehin weniger Berührungsängste: „Ich bin bereit, die bittere Zeit einer CDU-Alleinregierung in Kauf zu nehmen, wenn ab 2004 mit der PDS gute Konzepte umgesetzt werden können“, sagt ein junger Genosse.

Seit Jahren hat die Parteiführung schon die Debatte im Keim erstickt. Strieder, der sich bereits 1995 für einen forcierten politischen Diskurs mit der PDS eingesetzt hatte, wurde damals heftig gescholten. Nun plädiert er erneut für eine Auseinandersetzung. „Nur dann kann man am Ende glaubhaft sagen, mit der PDS kann man zum Teil sozialdemokratische Politik umsetzen.“ Einen Vorbehalt nennt er aber auch: „Die PDS muss realitische Vorschläge machen.“ Dorothee Winden