Wenn Kängurus kicken

Australien erreicht durch ein dramatisches 27:21 nach Verlängerung gegen Südafrika das Finale der Rugby-WM    ■ Von Clemens Martin

Aus Twickenham (taz) – Selbst die seriösen englischen Sonntagszeitungen gerieten ins Schwärmen. „Extra Speziell“ titelte schlicht die Sunday Times, und der Independent on Sunday schrieb: „Ein Freudenritt die Donnerstraße runter.“ Die Schlagzeilen galten dem ersten Halbfinale der vierten Rugby-Weltmeisterschaft, das Australien in einem bis zur letzten Minute der zweiten Verlängerung packenden Spiel mit 27:21 gegen Titelverteidiger Südafrika gewann. Im Finale am kommenden Samstag treffen die Australier nun auf Neuseeland oder Frankreich, die gestern ebenfalls in Twickenham aufeinander trafen (nach Redaktionsschluss).

Nur die größten Nörgler bemängelten, dass im bisher ausgeglichensten und spannendsten Spiel der WM alle Punkte lediglich durch Kicks erzielt wurden, weder Australien noch Südafrika einen Try (Versuch) erzielen konnten und dass die spielerischen Glanzlichter fehlten. Wozu auch? Was die „Wallabies“ (Kängurus) und die „Springboks“ (Gazellen) zeigten, war Rugby, wie man es sich besser nicht vorstellen kann, ein packender Kampf „zwischen zwei unbesiegten Schwergewichts-Boxern, ein Sumoringer-Kampf zwischen unwiderstehlichen Kräften und unbewegbaren Objekten“, wie der Independent on Sunday weiter schrieb.

Wer als neutraler Außenstehender dieses Halbfinale betrachtete, der erhielt erst recht eine Bestätigung dafür, was schon vor dem Beginn der WM bekannt war. Das Trio Australien, Neuseeland und Südafrika dominiert diese Sportart, und ist Welten entfernt vom Rest der Welt, auch von den führenden fünf europäischen Rugby-Nationen (England, Frankreich, Irland, Schottland und Wales).

Im Falle von Australien mag das ein wenig erstaunen, wenn man betrachtet, welche Rolle Rugby Union (wie diese Sportart offiziell heißt) im australischen Sport spielt, und an die Klischees glaubt, die über die Lebenseinstellung der Australier allgemein kursieren.

„No worries, mate“ soll ein Motto der Bevölkerung auf dem fünften Kontinent sein. Das Leben locker nehmen, unorthodox sein, die Disziplin vergessen – das scheint vor allem die australischen Mannschaftssportarten zu charakterisieren. Das zeigt zum Beispiel das anarchische Australian Rules Football, die mit Abstand populärste und nur dort gespielte Sportart, und das zeigt zum Beispiel auch Shane Warne, einer der besten Bowler (Werfer) im Cricket. Auch Australiens Rugby-Nationalmannschaft hatte einen solch unkonventionellen Spieler, nämlich David Campese. Der Flügel mit italienischen Vorfahren war bei der zweiten Rugby-Weltmeisterschaft vor acht Jahren einer der ersten Superstars in dieser Sportart, bekannt für seine Unberechenbarkeit, in positiver und negativer Hinsicht. Er konnte Spiele alleine gewinnen – und verlieren.

Campese war jedoch eine Ausnahme in Australiens Rugby, das in der Popularität erst an dritter Stelle hinter Australian Rules Football und Rugby League (mit nur 13 statt fünfzehn Spielern und leicht anderen Regeln) kommt.

Was die Wallabies auszeichnet, ist die Organisation und die Disziplin in der Defensive. Kaum ein gegnerischer Spieler kommt durch die schier unüberwindbar scheinende Mauer – im bisherigen WM-Verlauf, Halbfinale inklusive, musste Australien erst einen Try hinnehmen.

Heftige Diskussionen entstehen nur darüber, gegen wen Australien lieber gewinnt: Gegen die ehemalige koloniale Muttermacht England oder gegen den großen Erzrivalen Neuseeland. Die Spiele gegen die „All Blacks“ um den so genannten Bledisloe-Cup gehören zu den alljährlichen Höhepunkten im Rugby, übertreffen in spielerischer Qualität und kämpferischer Intensität alle Spiele des traditionellen, ebenfalls alljährlich stattfindenden Fünf-Nationen-Turniers in Europa. Kein Land hat es häufiger geschafft, die immer wieder übermächtig scheinenden Neuseeländer zu bezwingen, als Australien. Spiele gegen England oder gegen die „British Lions“ (mit Spielern aus England, Irland, Schottland und Wales) sind dagegen das reinste Vergnügen, nicht nur weil Australien regelmäßig gewinnt.