Der Exorzismus des Ostens

Für „After the Wall“ wurden 140 Künstler und Künstlerinnen aus Osteuropa nach Stockholm eingeladen. Selten waren dermaßen viele Bilder der Zerstörung und Gewalt bis ins Zwischenmenschliche hinein zu sehen  ■   Von Harald Fricke

Es sind die Männer, die in ihren Kunstwerken leiden, weil sie ihren Platz in der Hierarchie verloren haben

Nur ein Weg führt zum Museum. Weil das Moderna Museet auf einer Insel mitten im Zentrum von Stockholm liegt, gelangt man über eine schmale Brücke hinauf zu dem 1998 eröffneten Neubau. Links und rechts flackern schon nachmittags um fünf Uhr Dutzende von Kerzen. Damit ist der Besucher eingestimmt auf zehn Jahre osteuropäische Kunst nach dem Mauerfall: Waren es nicht Teelichter und Mahnwachen, die den friedlichen Widerstand gegen das SED-Regime symbolisiert hatten, damals bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig oder vor der Ostberliner Gethsemanekirche? Doch das Arrangement aus Kerzen ist kein Kunstwerk zur Geschichte der Bürgerbewegung in der DDR, sondern eine Sicherheitsmaßnahme. Das Straßenbauamt hat die Lichter aufgestellt, damit man im Dunklen nicht in den frischen Teer tappt.

Solchermaßen irritiert verpasst man die erste wirkliche Arbeit zur Ausstellung „After the Wall“. Es sind schwarze Polder, die auf dem Parkplatz des Museums stehen. Lutz Becker hat sie installiert und Lautsprecher eingebaut, aus denen es leise hämmert, klirrt und pickert. Die Geräusche wurden in den Tagen nach dem 9. November aufgenommen, als das Politbüro die Grenze zwischen Ost- und Westberlin öffnen ließ: „Mauerspechte“ nehmen den antifaschistischen Schutzwall auseinander. Beckers Soundmontage dokumentiert ganz unmittelbar das Ende der DDR und den Zusammenbruch des Ostblocks. In der Künstlerliste taucht sein Name trotzdem nicht auf. Statt dessen wird Beckers Arbeit im Katalog unter den Essays angeführt, die sich mit der Aufarbeitung von „Art and Culture in post-Communist Europe“ beschäftigen.

Offenbar ist es Bojana Pejic als Kuratorin von „After the Wall“ schwer gefallen, in Sachen Mauerfall zwischen Ästhetik und Theorie klar zu trennen. Das mag an der Grundfrage liegen, mit der sich die seit 1991 in Berlin lebende serbische Kunstkritikerin bei ihrer über zwei Jahre andauernden Recherche befasst hat: Wie lassen sich die geopolitischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen darstellen, die sich in den letzten zehn Jahren in der DDR, auf dem Balkan und den anderen Ländern des Warschauer Paktes abgespielt haben? Jede Falle wurde mitbedacht: Weder soll „After the Wall“ ein kolonialistischer Blick auf den Osten sein noch eine Korrektur zur letzten documenta. Außerdem hat Pejic die 140 Künstler, Künstlerinnen und Aktionsgruppen nicht stellvertretend für ihre Länder eingeladen, sondern wegen der individuellen Positionen. Und zuletzt: Die Kunst soll nicht die politische Situation repräsentieren, eher schon einen heterogenen osteuropäischen Diskurs, der sich aus dem Wandel im Verhältnis zum Westen ergeben hat.

Ein Konzept mit Folgen: Allein für die im Katalog auf 60 eng bedruckten Seiten fortlaufende Chronologie der Ereignisse wurden an die hundert weltweit publizierende Medien als Quellenmaterial herangezogen. Dabei sind Bücher, die sich mit dem Themenkomplex beschäftigen, nicht einmal mit eingerechnet. Fest steht am Ende eines: Wo früher neun Länder jenseits des eisernen Vorhangs lagen, sind mittlerweile 22 Staaten entstanden, allein aus der Sowjetunion gingen bisher zehn autonome Staaten mit steigender Tendenz zur Spaltung hervor. Es ist nun allerdings diese national korrigierte Kartografie, gegen die sich die Ausstellung wehrt – schließlich lebt gerade der Kunstbetrieb von losen Koppelungen. Dann bilden sich etwa zwischen Künstlern aus Vilnius und Belgrad Verbindungen, weil beide auf den Rassismus in ihrer Heimat reagieren: Die litauische Academic Training Group stellt eine theatralisch inszenierte Diashow über die Abschiebung von Asylanten aus, und Milica Tomic fragt in dem Video „Reconstruction of a Crime“ nach der kollektiven Schuld an der Ermordung von 39 Kosovo-Albanern durch die serbische Polizei im Jahr 1989.

Dass die territoriale Gemengelage von den Balkankriegen bis zum Vormarsch der russischen Armee in Tschetschenien eine einzige Anhäufung von Katastrophen ist, macht den Rückblick auf die Neunzigerjahre zur Trauerarbeit. Selten wurde in einer Ausstellung dermaßen viel Kunst als Ausdruck von Zerstörung und Gewalt gezeigt, selten begegnet man einer solchen Härte – manche nennen sie auch Humor – der Künstler im Umgang mit sich selbst. Von Šoba Nebojša Šeric aus Bosnien-Herzegowina hängen zwei Selbstporträts in identischer Pose nebeneinander: Einmal steht Šeric für ein Schwarzweißfoto schwerbewaffnet im Schützengraben, das andere Mal als Tourist und in Farbe am Hafen von Monte Carlo. Irgendwo dazwischen ist Šeric, wie er sagt, die Identität verloren gegangen. Liegt es in der selben Logik von Bruch und Neubeginn, dass sich ein Großteil der an „After the Wall“ beteiligten Künstler nicht zuständig fühlt für das Dilemma des postkommunistischen Bürgerkriegs? Schon im Eingang des Museums grüßt das litauische Künstlerduo Giedrius Kumetaitis und Mindaugas Ratavicius in gebrochenem Englisch die Ausstellungsbesucher auf einer bunten Fußmatte: „Frends Is Olvais Velcome To Lithuania“. Der Wunsch nach Integration führt nicht in die Krisenregionen der Nachbarländer, er richtet sich vor allem an den Westen.

Natürlich ist die Frage der Zugehörigkeit komplizierter, als es die Regeln der Gastfreundschaft gebieten. Die Konflikte vom Kosovo bis in die Kaukasusrepubliken sind auch Symptom der Angst vor den globalen Wirtschaftsnetzen. Gern wird etwa die Armut in Russland mit der Zunahme von Korruption und mafiosen Zuständen erklärt, die im Lande eingezogen sind, seit das Geld aus dem Westen die Geschäfte regelt. Im Gegenzug muss Identität deshalb territorial oder durch Ausgrenzung von Minderheiten gestiftet werden. Wie auch sollte, so argumentiert Pejic im Katalog, der Kapitalismus als „Lebensraum“ kritisiert werden, wenn „der Hochkapitalismus noch gar nicht dort angekommen ist“? Gleichwohl sind es, wie der Moskauer Soziologe und Kunstkritiker Joseph Backstein während des „Wall“-Symposiums schilderte, neben dem neuen Lumpenproletariat vor allem die Nouveau Riches, die aus Unzufriedenheit mit ihrer Situation zunehmend nach rechts abdriften. Die einen hoffen auf Verbesserung, die anderen fürchten den Verlust des eben erst erreichten Wohlstands. Soweit das Erbe des Materialismus.

Entsprechend spiegelt sich vorwiegend bei Künstlern aus der früheren Sowjetunion Aufstieg und Niedergang des Kommunismus. Der Fotograf Igor Moukhin zeigt, wie die Monumente der Stalin-Ära langsam verfallen, während sich andererseits in Moskau wieder neue KP-Truppen bei Demonstrationen formieren. Die alten Symbole bleiben im Einsatz. Vollends absurd wird das Revival bei Ljudmila Gorlova, die Don-Kosaken beim traditionellen Bohnenfest als Fotocomic ausstaffiert hat. Im Sepiabraun der Nostalgie bringt der Kommissar zur Begrüßung seiner Kolchose eine Sprechblase mit „motherfuck!“ hervor. Von der Vergangenheit lernen heißt auch – lachen lernen. Oder wie Pejic in ihrem sonst strengen Abriss zur „Dialektik der Normalität“ aus dem litauischen Fernsehen zitiert: „Wir gehören noch nicht zu Europa. In Europa lächeln die Menschen.“

Arsen Savadov und Oleksandr Kharchenko ist es dagegen sehr ernst um die Nation. Für ihre 1998 entstandene Fotoserie „Deepinsider“ haben die beiden Künstler aus der Ukraine Teenager in Reizwäsche auf Friedhöfen modeln lassen: Zwischen frisch ausgehobenen Gräbern werden Bodystockings und Bustiers von Gaultier vorgeführt, im Hintergrund beweint eine Familie den verstorbenen Großvater am offenen Sarg. Dabei wird der leicht durchschaubare Tabubruch mit der Sorge um die eigene Künstlerexistenz aufgeladen. Weil die Mode uns Lügen anbietet, „erwarten wir umso mehr Aufrichtigkeit von der Kunst“, steht als Kommentar im Katalog zu den offenherzig mit der Verführung spielenden Fotos. Kunst und Mode sind lediglich Platzhalter für die Unversöhnlichkeit von Geld und Ethik, während sich die Arbeiten damit begnügen, Widersprüche einfach abzubilden. Nicht anders ist die Kritik bei der estischen Künstlerin Inessa Josing angelegt, wenn sie Schaufenster in der Stockholmer City mit Heiligen, Huren und Schwulenpärchen dekoriert. Dabei wussten die Schweden bislang doch bestens, wie man mit Konsum umgeht – das Bier ist dort teurer als Blue Jeans.

Oft führt der Kampf gegen die Lockungen des Marktes erneut zu einer engen Sicht auf die Welt. Immer wieder werden sozialistische oder gleich die ganz alten, russisch-orthodoxen Ikonen durch westliche Marken ersetzt, als ob sich nicht damit auch der Kontext verschieben würde. Der gekreuzigte Herrenanzug von Luchezar Boyadjiev aus Sofia ist nicht Martyrium im Kapitalismus, sondern politisch gewendeter Kirchenkitsch. Umgekehrt bietet der Pole Zbigniew Libera die Konzentrationslager von Auschwitz als Bausatz „sponsored by Lego“ an, und wundert sich nun, dass das Unternehmen wegen des gefälschten Logos vor Gericht geht. Dabei wollte er „gar nicht die Spielzeugfirma angreifen, sondern eine Gesellschaft, die die Verbrechen der Nazis zugelassen hat“.

Bei soviel Exorzismus und Ranküne sind Analysen rar. Das gilt auch für Vasily Tsagalov: Sein Videotagebuch „Milk Sausages“ schildert einen tristen Tag in Kiew, der im Bett einer Frau endet, die erst mit Hilfe von Würstchen sexuell befriedigt wird. Dass es sich bei dieser derben Story um eine Therapie gegen das Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen handeln soll, erkennt man daran, dass Tsagolov Vegetarier ist und die Wurst das Problem. Überhaupt sind es in der geschlechtertechnisch erstaunlich ausgewogenen Ausstellung hauptsächlich Männer, die in ihren Kunstwerken leiden, weil sie beim Übergang von System zu System einen verbindlichen Platz in der Hierarchie verloren haben. Während der Bulgare Rassim Kristev sich deshalb in der Videolangzeitstudie „Corrections“ seit zwei Jahren an Hanteln abquält, um für die Zukunft seines Landes wenigstens körperlich fit zu bleiben, reicht Krizta Nagy aus Ungarn ein Poster: „I am a contemporary artist“ steht in gewaltigen Lettern auf einem Billboard und daneben die 1971 geborene Künstlerin in Unterwäsche.

Im Gegensatz zur symbolhaften Gleichung von Eros, Tod und Kapital bei Savadov und Kharchenko wird hier zumindest die Position sichtbar, aus der Nagy agiert. Es ist der Stellenwert als Künstlerin innerhalb der ungarischen Gesellschaftsordnung, den sie mit ihrer Werbetafel hinterfragt: Genosse, wie hältst du es mit Kultur in der neuen Freiheit? Als die Poster in Budapest hingen, waren sie prompt mit „Nutte“ oder „Fuck you“ beschmiert. Das ist immerhin eine Antwort.

„After the Wall. Art and Culture in post-Communist Europe“ bis 16. 1. 2000, Moderna Museet, Stockholm. Katalog, 2 Bde., englisch, 460 SKr.