Die Oper lebt,...

...es lebe der Untergang: Peter Konwitschnys „Freischütz“-Deutung amüsiert und erschreckt  ■ Von Dagmar Penzlin

Am Ende perlt der Sekt in den Gläsern; auch Teufel Samiel und sein Handlanger Caspar stoßen mit ihrem Auftraggeber, dem frommen Eremiten, an. Dieser hat die Aufführung von Carl Maria Webers Freischütz von der ersten Parkettreihe aus verfolgt, hat stehend seinen Darstellern applaudiert und Agathe, seiner Botschafterin des Guten, die schützenden weißen Rosen über den Orchestergraben hinweg zugeworfen. Als die Geschichte dann böse zu enden drohte, hat der Eremit eingegriffen, den Fürsten Ottokar vor den Vorhang zitiert und gemeinsam mit dem Inspizienten für ein – nicht wenig wackeliges – Happy End gesorgt. Dieser moderne Deus ex machina im edlen Anzug verteilt goldene Kärtchen – ob es Visitenkarten sind oder der Himmel so seine Akteure entlohnt, ist egal. Auf jeden Fall wissen wir jetzt, was wir immer geahnt haben: Das Teuflische und das Göttliche machen gemeinsame Sache.

So plakativ und augenzwinkernd der Schluss von Peter Konwitschnys Neuinszenierung an der Staatsoper daherkommt, so facettenreich ist sein Freischütz insgesamt: keine Parodie also, sondern ein aufregend-kluges Spiel mit vielen Brüchen. Neben urkomischen, wunderbar ironischen Momenten stehen solche echten Erschreckens. Konwitschnys Freischütz ist ein Kaleidoskop, das auf das Groteske am Deutschsein ebenso blicken lässt wie in die hochpolitischen Abgründe globalen Fortschrittsglaubens.

Bis im Finale des dritten Aktes der Eremit (Simon Yang) die Regie übernimmt, hält Samiel (Jörg-Michael Koerbl) die Handlungsfäden in der Hand: ein schmächtiges Männlein, das in den verschiedensten Verkleidungen auftritt – mal als Karikatur eines Geistlichen, mal als Schankfrau und mehrmals als stummer Conferencier. Einmal verwandelt er sich sogar in eine Teufelsbratscherin (Andrea Darzins), um Ännchen (Sabine Ritterbusch) ihre Melodien zu soufflieren. In der Wolfsschlucht-Szene schließlich mimt er den Mächtigen im weißen Abendanzug, der ganz bürokratisch Buch führt über seine Seelenopfer. Und derselbe schiebt sich vor der Schlussszene im schlecht sitzenden Jackett vor den Vorhang und rezitiert mit komischem Ernst den Text des Jägerchores – lange hat man über deutsche Traditionen von Männlichkeit nicht mehr so lachen können.

Nicht nur wegen dieser Teufelsfigur erinnert sich gerade der Hamburger Theatergänger an den Wurzelfaust von Christoph Marthaler: Auch hier gab es einen Fahrstuhl, der für manch transzendenten Moment sorgte. In der ausdrucksstarken Freischütz-Ausstattung von Gabriele Koerbl fährt ein knallroter Lift am Bühnenrand nicht ins Erdgeschoss, sondern direkt in die Wolfsschlucht – in das Zentrum des Irrationalen und Unbewussten. Die große Wolfsschlucht-Szene am Ende des zweiten Aktes gerät zur apokalyptischen Vision: Das Gießen der Freikugeln, der Pakt mit dem Bösen, hebt die Ordnung der Dinge völlig aus den Angeln. Das endzeitliche Ticken einer Zeitbombe begleitet das Publikum durch die Pause: Ja, auch wir haben Anteil am Untergang des Abendlandes.

Jägerbursche Max lässt sich lediglich auf dieses teuflische Unternehmen mit Caspar (Albert Dohmen) ein, um den Probeschuss bestehen zu können. Denn nur dann kann er Nachfolger des Erbförsters werden und dessen Tochter Agathe (Charlotte Margiono) heiraten. Dass dieser Max ohne teuflische Hilfe in Karriere- und Liebesfragen wahrscheinlich kläglich versagen würde, daran lässt Tenor Poul Elming keinen Zweifel. Trotz stattlicher Statur und kräftiger Stimme: Sein Max ist eine Memme, ein lebensuntüchtiger, wehleidiger Softie in zu kurzen Hosen, der kein Blut sehen kann.

Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters sorgt Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher für das rechte musikalische Profil dieser Neuproduktion: So sehr man meint, die meisten Musiknummern von Webers Werk wären doch Gemeingut, so vieles gibt es neu zu entdecken, wenn Hamburgs GMD dirigiert. Überzeugend auch Chor und Solisten, besonders Charlotte Margionos innig glühender Sopran.

Nach Bravos für Metzmacher und sein Ensemble lieferten sich Bravo- und Buh-Rufer am Premierenabend lautstarke Gefechte, als Konwitschny mit seiner Ausstatterin Gabriele Koerbl schließlich die Bühne betrat. So ist das eben: Wo dieser Regisseur inszeniert, entbrennen kontroverse Diskussionen – die Oper lebt, was will man mehr.

6. (ausverkauft), 9., 11., 15., 21., 25. November, 19 Uhr, Staatsoper