Wo die Alten den Laden schmeißen

Der dänische Billig-Discounter Netto hat in einer Berliner Filiale nur über 45-Jährige angestellt. Die Leute machen einen guten Job – ausgeweitet wird das sinnvolle Modell dennoch nicht  ■   Von Nicole Maschler

Bei den drei „Ks“ – Kompetenz, Krankheit, Kündigung – gibt es keine Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren

Noch liegt die Nacht dunkel über der Plattenbausiedlung im Berliner Osten, da haben Silvia Stiefler und ihre Kollegen im Lichtenberger Discounter Netto die Müdigkeit bereits mit einem energischen Handschlag weggewischt. Wenn die ersten Kunden in drei Stunden den Supermarkt betreten, müssen in der Filiale der dänischen Billigkette Gemüsekonserven aufgefüllt, Bananen ausgepackt und Bierkisten gestapelt sein. „Ware wälzen“, nennen sie den Knochenjob.

Wie alle im Team ist Silvia Stiefler froh, überhaupt Arbeit zu haben. Bevor sie den Job bei Netto antraten, waren die meisten lange arbeitslos – wegen des hohen Alters. Doch wo andere Personalchefs abgewunken haben, war Netto interessiert: in dieser Berliner Filiale sind alle Mitarbeiter über 45. Die jüngste Verkäuferin ist 45, der älteste Mitarbeiter über 60 Jahre. Im vergangenen September hatte Silvia Stiefler ihre Stelle als Drogistin verloren, der kleine Familienbetrieb war schlecht gelaufen. In zwei Monaten schrieb sie 40 Bewerbungen – ohne Erfolg. „Auch wenn es nie offen ausgesprochen wurde, hatte es wohl etwas mit meinem Alter zu tun“, glaubt die 45-Jährige heute. Aus dem Radio erfuhr die Dresdnerin von dem Berliner Netto-Projekt.

Nach dem Fall der Mauer hatte der dänische Mutterkonzern Dansk Supermarked 162 Filialen in den neuen Bundesländern eröffnet. Netto Deutschland importierte aus dem Stammland nicht nur Verkaufskonzept und Sortiment, sondern nach Berlin auch das Modell „45 +“.

In Dänemark, wo die Arbeitslosenquote bei 5,6 Prozent liegt und der Handel händeringend nach engagierten Mitarbeitern sucht, hatte die Supermarktkette aus der Not eine Tugend gemacht und 1998 in Kopenhagen einen Senior Store eröffnet. Um ihren Personalbedarf zu decken, rekrutierte die dänische Mutter kurzerhand Vorruheständler und ältere Hausfrauen. Sorgen, dass dies in Berlin ebenso sein könnte, kannte das deutsche Management nicht; zumal in Lichtenberg, einem Ostberliner Bezirk, in dem die Arbeitlosigkeit 14,6 Prozent erreicht und nahezu jeder dritte Jobsucher älter als 55 ist.

„Wir haben lange überlegt, ob wir das Projekt hier machen sollen“, erinnert sich Bezirksleiter Thomas Orry. Aber es wurde gemacht. Die beiden Anzeigen, die Netto in der Lokalpresse schaltete, trugen den Zusatz „Nur Bewerber über 45 Jahre“. 2000 Angebote flatterten Orry, mit seinen 30 Jahren deutlich unter dem Altersschnitt, auf den Schreibtisch. Die dreizehn Kandidaten, die am Ende den Job bekamen, waren alle arbeitslos, zum Teil seit mehreren Jahren.

Filialchefin Ursel Richter hatte schon zu DDR-Zeiten als Marktleiterin und Ausbilderin gearbeitet. Dennoch machte sie sich wenig Illusionen, als sie mit knapp 50 ihren Job verlor. Die Stelle bei Netto war für sie daher „ein Geschenk des Himmels“.

Doch in eine Schublade mag sich Richter nicht stecken lassen. Von größerer Flexibilität und Motivation will sie nichts hören. Den Hinweis auf das besondere Einkaufsgefühl im Lichtenberger Senior Store, der beim Start des Projektes in manchen Berichten zu lesen war, empfindet sie als versteckte Diskriminierung. Ihr Team arbeite nicht anders als jüngere Kollegen, sagt Richter.

Tatsächlich hat Vize-Geschäftsführerin Margit Kühn die Daten in ihren Personalakten verglichen und bei den drei entscheidenden „Ks“ – Kompetenz, Krankheit, Kündigung – keinen Unterschied zwischen jüngeren und älteren Mitarbeiter festgestellt.

Auch Bezirksleiter Orry ist mit dem Verlauf des Modellversuchs hochzufrieden. An den Mitarbeitern lobt er ihren Erfahrungsschatz, die Eigenverantwortung und Aufmerksamkeit gegenüber den Kunden. Denn eines könne er beim Einkaufen gar nicht ausstehen: Hektik. „Sonst geht der Kunde schnell rein und ist auch schnell wieder draußen.“ Allein, reine „45 +“-Märkte soll es künftig nicht mehr geben. Wenn auch für Ursel Richter und ihr Team nach dem Ende des Testlaufs alles beim Alten bleibt – auf andere Filialen will die Geschäftsleitung das Lichtenberger Modell nicht ausweiten. Die älteren Mitarbeiter sind schlicht zu teuer, gibt Orry offen zu. Während eine Verkäuferin im ersten Jahr nur rund 2.700 Mark brutto verdient, bekommt ihre ältere Kollegin immerhin 3.400 Mark laut Tarifvertrag. Wer mehr verdient, muss höhere Sozialbeiträge einzahlen – und die ziehen auch dem Arbeitgeber mehr Geld aus der Tasche.

Dennoch soll der Pilotversuch nicht ganz folgenlos bleiben: Ältere Kandidaten werden bei einer Bewerbung künftig nicht mehr sofort ausgesiebt, verspricht Vize-Chefin Margit Kühn. „Schließlich haben sie mit 45 Jahren erst die Hälfte ihres Arbeitslebens hinter sich.“