Schwierige Hilfe für die Opfer des Zyklons

Im indischen Orissa behindern Regenfälle die Hilfsmaßnahmen nach dem schweren Wirbelsturm, es drohen Hunger und Epidemien. Noch keine genauen Schätzungen der Zahl der Todesopfer möglich  ■   Aus Delhi Bernard Imhasly

Der schwere Wirbelsturm, der am Wochenende große Teile des ostindischen Bundesstaats Orissa zerstörte, hat sich abgeschwächt und bewegt sich nur noch langsam ins Landesinnere weiter. Aber die Regenfälle dauern an. Sie sind weiterhin von Sturmwinden begleitet, insbesondere im flachen Küstengebiet an der Bucht von Bengalen, wo sich seit vergangenen Mittwoch der als „Superzyklon“ bezeichnete Wirbelsturm mit Windgeschwindigkeiten von über 250 Kilometern pro Stunde und einer zehn Meter hohen Flutwelle aufgebaut hatte.

Die Versorgung der am stärksten betroffenen Landstriche aus der Luft ist immer noch nicht möglich. Statt der Armeekonvois mit Lebensmitteln, Medikamenten und Trinkwasser kommen zunächst einmal Aufräumeinheiten zum Einsatz, um Straßen freizuräumen und provisorische Pontonbrücken zu bauen. Die Armee hat 10.000 Mann für den Einsatz mobilisiert. Weite Teile des Katastrophengebiets blieben auch gestern noch von der Außenwelt abgeschnitten. Aus Delhi machte sich ein Eisenbahnzug mit 50 Tonnen Hilfsmitteln auf den Weg. Berichten zufolge sind auch Schiffe mit Hilfsgütern unterwegs.

Gestern konnte eine Telefonverbindung mit der Haupstadt Bhubaneshwar wieder hergestellt werden. Auch mit der am schwersten betroffenen Hafenstadt Paradip konnte eine Satellitenverbindung aufgebaut werden. Die über diese Kanäle fließenden spärlichen Informationen lassen es immer noch nicht zu, die Zahl der Opfer genauer einzuschätzen. Nach Behördenangaben wird es noch Tage dauern, bis zuverlässige Schätzungen vorliegen.

Offiziell sind in Bhubaneshwar bisher erst 232 Todesopfer registriert worden. Doch die verschiedenen Schätzungen gehen weiterhin in die Tausende. Die Zeitung Asian Age sprach von einer Größenordnung von 10.000 Toten, während andere Zeitungen von mindestens 3.000 Todesopfern ausgehen. Die Stadt Paradip soll weitgehend zerstört sein, doch es wird angenommen, dass vielen Menschen die Flucht ins Landesinnere gelang. Nach Presseberichten sind bis zu 15 Millionen Menschen – die Hälfte der Einwohner des Bundesstaats Orissa – von den Auswirkungen des Zyklons betroffen. Er gilt als einer der schwersten in der Region in diesem Jahrhundert und zerstörte einen 140 Kilometer langen Küstenstreifen. Etwa 1,5 Millionen Menschen sollen obdachlos geworden sein. Ministerpräsident Vajpayee sprach von einer „nationalen Katastrophe“. Orissas Chefminister Gamang berichtete, er habe bei seinem zweistündigen Erkundungsflug über dem Katastrophengebiet nur Wasser und keine Bäume oder Häuser gesehen.

Noch wichtiger als die Bergung und Zählung der Opfer ist aber gegenwärtig die Verhinderung von weiteren Katastrophen. Berichte aus Bhubaneshwar sprachen von der Stürmung von Läden und dem Überfall auf Fahrzeuge durch hungernde Dorfbewohner. Die Nachricht zeigt, wie knapp die Überlebensreserven von Millionen Menschen sind, deren Hab und Gut weggefegt wurde und deren Felder überschwemmt sind. Dies gilt auch für ihre physische Widerstandskraft gegenüber Krankheiten, die sich in den unter Wasser stehenden Gebieten schnell verbreiten können. Der Zyklon hatte am vergangenen Freitag Flutwellen bis zu 15 Kilometer ins Landesinnere getrieben.

Die erwartete Größenordnung der nötigen Hilfsoperationen hat die Regierung bewogen, neben der Bereitstellung von Katastrophengeldern und Hilfsgütern im Umfang von vorerst 128 Millionen US-Dollar auch die internationale Öffentlichkeit um Unterstützung anzugehen. Aus einer Reihe von Ländern sind inzwischen erste Hilfsangebote eingetroffen. Man ist sich im Ausland bewusst, dass Indien in der Regel nur Geld- und Materialhilfe anfordert, nicht aber Einsatzhelfer. Dies ist zumindest bei der jüngsten Katastrophe sinnvoll, da die vom Wetter und dem Zerstörungsgrad aufgezwungene Improvisationsfähigkeit nur von Personen geleistet werden kann, die sich auch in ihrem Leben mit Improvisation über die Runden bringen. Dies gilt umso mehr für Orissa, wo es bereits wieder Befürchtungen gibt, dass sich ein neues Sturmtief aufbaut.