Cargo im Nachtsprung

■ Am Lehrter Güterbahnhof in Berlin werden jährlich bis zu 80.000 Transportbehälter abgefertigt. Für die DB Cargo ein Verlustgeschäft

Berlin (taz) – Zwei Männer sitzen vor einer grauen Tafel mit gelben Querbalken. Mit Nadeln haben sie abgegriffene Pappkärtchen darauf geheftet – akkurat wie eine Perlenkette. Jedes Schild trägt eine handschriftliche Nummer und steht für einen Waggon, der gerade hinter einer Mauer aus Containern an der Ladestraße einrollt. Ein Wagenmeister schreitet den Bahnsteig entlang. Unterm Arm trägt er eine Liste, wo später ein 40-Fuß-Container und ein Wechselbehälter platziert werden sollen. Entsprechend klappt er die Eisennippel an den Ladeflächen der Wagen hoch; sie werden später in die genormten Löcher der Transportbehälter stoßen und sie bei voller Fahrt festhalten.

Sechs bis sieben Züge werden wochentags vom Hamburg-Lehrter Umschlagbahnhof nördlich des Berliner Regierungsviertels auf die Reise geschickt. „Fast alles geht bei uns im Nachtsprung“, sagt die Leiterin des Umschlagbahnhofs, Cornelia Wildt. Lange vor Morgengrauen treffen die Gegenlinien ein, die jeweils aus Wagengruppen mehrerer Städte einer Region zusammengestellt wurden. 60.000 bis 80.000 Transportbehälter fertigen die 46 hier arbeitenden Leute im Jahr ab. Gut die Hälfte von ihnen hat einen Arbeitsvertrag bei der DB Cargo, die für den Güterverkehr zuständig ist, die anderen sind bei der DB Netz angestellt.

„Wo soll der Sattelauflieger hin?“ tönt im Büro eine Stimme aus dem Funkgerät. Der Mann am Computer gibt dem Kranführer eine Position durch. Der sitzt etwa 300 Meter entfernt in einer Glasgondel, die an einem mehrere Gleis- und Fahrspuren überspannenden Eisentor hängt, und bedient einen Joystick. Kaum weiß der Kranfahrer Bescheid, braust das riesige Gestell auf Rädern den Bahnsteig entlang und stoppt über einem Lkw. Vier Greifarme gleiten hinab, umschließen die Kiste, die scheinbar mühelos hinfortschwebt. Keine zwei Minuten hat es gedauert, bis der Container exakt auf dem vorgeschriebenen Platz der Güterwaggonkette gelandet ist und der Lkw wegfahren kann. 35 bis 40 Mark kostet den Lieferanten der Umschlag. Nimmt er eine andere Kiste wieder mit, verdoppelt sich der Preis.

Die Kapazität des Berliner Terminals ist zu etwa 60 Prozent ausgelastet – eine gute Zahl im Vergleich zu den meisten anderen Umschlagbahnhöfen in Deutschland. In Erfurt werden gerade einmal 6.000 Container im Jahr vom Lkw auf den Zug oder umgekehrt gehievt. Und der Kran in Großbeeren bei Berlin hat bisher nur eine Kiste angehoben – am Eröffnungstag. Zur Zeit ist DB Cargo am Hamburg/Lehrter Umschlagbahnhof der einzige Kunde der DB Netz. „Wir diskriminieren hier aber niemanden“, versichert Jörg Wilke, kaufmännischer Leiter des Bereichs Umschlagbahnhöfe.

Jeden Tag zur gleichen Uhrzeit werden 13 Züge abgefertigt – egal ob sie fast leer oder voll sind. Was hier ab Januar abgeht und ankommt, ist allerdings noch ungewiss. Denn die DB Cargo-Zentrale hat beschlossen, dass sie das Auslastungsrisiko beim kombinierten Verkehr nicht mehr länger tragen will; schließlich beschert es ihr ein jährliches Defizit in dreistelliger Millionenhöhe. Annette Jensen