Organisiertes Erbrechen    ■ Von Michael Rudolf

Jede Sauce in der mitteleuropäischen Küche verlangt nach einer Sättigungsbeilage mit Schwammeigenschaften, und jeder aufrichtige Verehrer kenntnisreich zubereiteter Fleischbraten weiß darum. Kaum ein Gedanke hat die Menschheit im Innersten je so aufgewühlt. Die Ergebnisse können sich meist sehen lassen bzw. die Tatsache, dass man bereitwillig von Fremden lernt. Sonst gäbe es die Nudel nicht, und wer weiß, ob die Kartoffel über ihrem Schicksal als reine Zierpflanze nicht eines Tages zerbrochen wäre.

Doch die Kartoffel hat stattdessen ein viel schlimmeres Los zu tragen: nämlich ihre skrupellose Weiterverarbeitung zum Kartoffelkloß. Es kann hier freilich nicht um irgendwelche Klöße gehen, nein, das Verbrechen hat einen Namen: Grüne Klöße, und dieses organisierte Erbrechen wütet v. a. in Thüringen und im Vogtland. Zwei Zentner roh geschälte Erdbirnen werden kaputt gerieben, durch ein Tuch gepresst, mit einem Sack Mehl oder Grieß verrührt, Messerspitze Salz, ein Kastenweißbrot hineingedrückt, dann in Riesenkesseln urankontaminierten Wassers gekocht und tischfähig gemacht. Trotzdem wagen es die Schergen des Unheils sogar, von Veredlung zu sprechen. Für die originale Größe der Thüringer Küchenplage werden schnell der Fußball oder die Kanonenkugel zum Vergleich herangezogen. Bröckelpolze, Schüttelklüß, Mahlhütes, Knölle, Hebes, Zottelzampe – so die regionalspezifischen Tarnnamen der singulären kulinarischen Entgleisung.

Gut, wie sie heißen und wie sie gemacht werden, wissen wir jetzt. Wie aber sehen sie aus? Der große Kloßexperte Holger Sudau hat ganz richtig feststellt, dass die anschauliche Beschreibung dieser beispiellosen Entweihung der bei höheren Lebensformen so beliebten Stärkeknolle den Gebrauch von Schimpfwörtern geradezu herausfordere. Ein Mensch, der noch nie in Thüringer Breiten weilte, kann nicht erahnen, welches Unheil, welche Pein und auch welche andreasgrabentiefe Verzweiflung seiner hinter dem Euphemismus „Grüne Klöße“ harren. Um hier ein für alle Mal deskriptive Exaktheit walten zu lassen: Thüringer Klöße sind niemals grün, sie sind grau. Grau wie ein mit Gärungsnebenprodukten durchlittener Herbstregentag (November). Und wie ist die Konsistenz beschaffen? Wie der Auswurf eines mehrfach geschiedenen rechtsextremistischen Kettenrauchers mit Holzbein, Haftschalen und teilw. sodomitisch durchwachsenem Stammbaum? Ganz recht. Genau so. Und weil jede Familie das eigene Kloßrezept wie ihren Augapfel hütet und statt Verrat lieber den Martertod in Kauf nähme, ist der Schritt zum Inzest oder zum Lutz-Rathenow-Bildchen-Sammeln nur eine Formalität. Der Cholesterinjunkie-Nachwuchs wächst heran, indem er dieses „Nahrungsmittel“ in braune Saucen tunkt, um anschließend seine Innereien damit zu stopfen. Das kryptische Reich verschwitzter Höllensaucen erfährt hier, überall, wo Teller stehen – und Teller stehen hier überall – unmaßstäblich dimensionierte Weihen. Wie oft werden ahnungslose Besucher schon aus dem Alptraum hochgeschreckt sein, das allgegenwärtige organisierte Erbrechen wolle ihnen die Mehlschwitzen gleich intravenös verabreichen? Wann schreitet der Gesetzgeber endlich ein?