Nur schwankende Seile statt Brücken

Der Wirbelsturm „Mitch“, der vor einem Jahr Mittelamerika heimsuchte, hat in Honduras die Armen noch ärmer gemacht. Doch die Minister schieben sich die Bauaufträge zu und bereichern sich maßlos    ■ Aus Tegucigalpa Toni Keppeler

Platsch! Der Rio Choluteca hat ihn verschluckt. Zuerst tauchen seine Hände wieder auf. Dann die Baseball-Kappe, die er damit festklammert. Dann der Kopf. Miguel Ayala holt Luft. Dann rudert er wild mit den Armen. Jetzt, am Ende der Regenzeit, ist der Choluteca ein reißender Fluss. Vielleicht fünfzig Meter treibt der Junge in der Strömung, dann spült es ihn ans Ufer. Er rennt zurück zu den über den Fluss gespannten Seilen. Vorsichtig balanciert er bis zur Mitte vor. Dort nimmt er Haltung an. Langsam hebt er beide Arme. Die Hände klammern die Basketball-Mütze fest. Er springt. Platsch!

Absolut „chévere“ sei das, sagt der 14-Jährige. Aber Mut müsse man schon haben. Denn es ist gar nicht so einfach, auf einem schwankenden Seil bis zur Mitte des Flusses zu balancieren. „Vorher darfst du nicht runterfallen“, warnt Miguel. In Ufernähe ist der Choluteca nicht tief genug. Gischtkronen und wilde Wellen weisen darauf hin, dass ein paar große Felsbrocken im Wasser liegen. „Wenn du da draufklatschst ... Zack, und dein Bein ist ab.“

Das Bett des Choluteca ist hier siebzig Meter breit. Wo jetzt sechs Seile gespannt sind, stand früher eine Betonbrücke. Gleich dahinter liegt das Dorf Reitoca. Vor einem Jahr, als der Wirbelsturm „Mitch“ über Zentralamerika zog und mit seinen gewaltigen Regenmassen den Choluteca um mehr als zehn Meter anschwellen ließ, wurde die Brücke weggespült. Die danach gespannten Seile sollten einmal eine Hängebrücke werden. Ein provisorischer Ersatz für das solide Bauwerk von früher. Doch seit Monaten hat man keine Arbeiter mehr gesehen.

Für die gut 15.000 Einwohner der Dörfer Reitoca, Alubarén und Curarén war diese Brücke die einzige Verbindung zur Außenwelt. Von hier aus sind es noch knapp fünfzig Kilometer bis zur Hauptstadt Tegucigalpa. Wer das bisschen Mais oder Bohnen, das er nicht selbst verzehrte, zum Markt bringen wollte, musste über diese Brücke. Wer eine weiterführende Schule besuchte, auch. Über diese Brücke kam der Arzt ins Dorf, und alle Schwerkranken wurden über sie ins nächste Hospital gebracht. Seit einem Jahr ist das teuer geworden. Reitoca, Alubarén und Curarén sind nicht vollkommen von der Umwelt abgeschnitten. Dort, wo jetzt die sechs Seile über den Choluteca gespannt sind, haben Geschäftemacher einen Fährdienst mit sechs kleinen Booten eingerichtet. Fünf Lempiras verlangen sie pro Person für die Überfahrt. Für Gepäck werden weitere fünf Lempiras fällig.

Allein der Weg in eine weiter führende Schule kostet seither 200 Lempiras im Monat für die Überfahrt und noch einmal so viel für den Bus, der bis zu den Seilen kommt. 400 Lempiras (rund 50 Mark) für einen Schüler, das kann sich kaum eine Familie leisten. Die meisten sind Kleinbauern mit weniger als zwei Hektar Land. Sie haben, wenn es gut geht, das Doppelte im Monat flüssig. Also geht kaum mehr ein Kind auf eine weiterführende Schule.

In Honduras gibt es bis heute fünfzig Gemeinden, die so abgeschnitten sind wie Reitoca. Und dies, obwohl sich die Regierung im ersten Jahr der Aufbauarbeit auf die Infrastruktur des Landes konzentriert hat. Das Unwetter hatte rund hundert Brücken weggespült. Die meisten wurden ersetzt. Doch begleitende Maßnahmen wie Drainage und Wiederaufforstung von Tälern wurden einfach vergessen. So ließen auch gewöhnliche Regenfälle die Flüsse ungewöhnlich ansteigen. Mit der Folge, dass die Aufbauarbeiten im Wortsinn ins Wasser fielen. Ein gutes Dutzend der neuen Brücken ist schon wieder weggespült.

Präsident Carlos Roberto Flores kann deshalb demnächst wieder neue Brücken einweihen. Der Staatschef wollte nur gut aussehen, sagt German Calix von Caritas. Wiederaufbau oder gar Katastrophenprävention spielten für ihn kaum eine Rolle. „Die Fernsehbilder sind immer dieselben“, sagt Calix: „Der Präsident taucht auf aus Schlamm und Ruinen, verspricht, alles zu richten, und weiht eine Behelfsbrücke ein.“

Für solche Fernsehspots, schätzt der ehemalige Außenminister Fernando Martinez, ist wahrscheinlich mehr Geld ausgegeben worden als für die von „Mitch“ besonders betroffenen Armen. Dabei hatte eine Geberkonferenz Ende Mai in Stockholm die 2,7 Milliarden US-Dollar an Kredit- und Hilfszusagen an die Bedingung geknüpft, dass beim Aufbau des Landes Armutsbekämpfung, Umweltschutz, Dezentralisierung und Demokratisierung im Mittelpunkt stehen.

Armut ist in Honduras in erster Linie ein Problem der Landverteilung: 250.000 Familien – das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung – besitzen gar keines und schlagen sich als Tagelöhner durch. Knapp 80 Prozent der landwirtschaftlichen Güter sind kleiner als zwei Hektar. Auf diesen Minifundien soll die Ernährung des Landes gesichert werden. Denn auf den riesigen Plantagen in den fruchtbaren Ebenen nahe der Atlantikküste werden die Grundnahrungsmittel Mais, Reis und Bohnen nicht angebaut. Dort wachsen Bananen, Ananas, Melonen und afrikanische Ölpalmen – alles für den Export.

Der Militärdiktator Osvaldo Arellano López hatte schon 1972 eine Agrarreform verordnet, nach der Brachland und über bestimmte Höchstgrenzen hinaus gehende Besitztümer an Landlose verteilt werden sollten. Doch die späteren demokratisch gewählten Regierungen setzten allesamt auf die exportorientierte Agro-Industrie. „Seit acht Jahren hat es für die Landreform keinen Quadratmeter mehr gegeben“, sagt Marvin Ponce, Sekretär des Dachverbandes der Bauernorganisationen Cococh.

Dafür haben sich seit 1990 die Maisimporte verdoppelt und die Bohnenimporte vervierfacht. Parallel dazu ist der Bevölkerungsanteil der Armen von 60 auf 82 Prozent gestiegen. Kurioserweise ist der nationale Maispreis nach der Katastrophe um 30 Prozent gefallen. Der vorher schon kaum rentable Anbau wurde für die Kleinbauern vollends unattraktiv.

Ponce lastet den Preisverfall der Regierung an. Zum einen habe sie Hilfslieferungen „ohne Strategie und Kontrolle“ verteilt, so dass auf dem Markt ein Überangebot entstand. Zum anderen wurden die Einfuhrzölle drei Monate lang von 45 auf ein Prozent gesenkt. „Genutzt hat das nur den wenigen Importeuren“, sagt der Bauernsprecher. „Die hiesigen Produzenten haben 70.000 Hektar weniger mit Mais bebaut als im Jahr zuvor. Das Defizit wird weiter steigen.“

Den Weltwährungsfonds (IWF) stört das wenig. Der lobte Mitte Oktober die Haushaltsdisziplin und die relative makroökonomische Stabilität des Landes. Kurz vorher hatten IWF und Weltbank Honduras einen baldigen Schuldenerlass in Aussicht gestellt. Und die Regierung übt sich in vorauseilendem Gehorsam. Nächstes Jahr soll die Telefongesellschaft Hondutel verkauft werden. Selbst ein paar staatliche Krankenhäuser kommen unter den Hammer. Mit Armutsbekämpfung haben solche Programme erfahrungsgemäß wenig zu tun.

Der Regierung gehe es auch gar nicht um Armut, sondern um persönliche Bereicherung, sagt Ex-Außenminister Martinez. Er war der erste aus der Regierung, der öffentlich den laxen Umgang mit Hilfsgeldern kritisiert hatte. Mitte Januar war er deshalb entlassen worden. Kein Projekt wurde öffentlich ausgeschrieben, klagt Martinez. Die Minister hätten die Aufträge einfach ihren Freunden zugeschoben. Zum Teil seien dafür eigens Baufirmen gegründet worden, die bis heute über keine einzige Maschine verfügen. Das Aufbaukabinett, erinnert er sich, „ist wie ein Club von Freunden. Man trinkt zusammen Kaffee und redet darüber, wie man sich mit den Projekten am besten bereichern kann.“

Kein Wunder also, dass nur sechs Seile über den Rio Choluteca nach Reitoca führen. Und dass in der Hauptstadt Tegucigalpa, wo derselbe Fluss ganze Stadtviertel verschluckte, noch nicht einmal alle Trümmer weggeräumt sind. Am Ufer stehen hunderte von Ruinen. 35.000 Menschen leben noch immer in Notquartieren.

„Was wollen Sie?“, fragt Entwicklungsminister Moisés Starkman. „35.000 Menschen in Notquartieren ist in Honduras Normalzustand. Die Regierung hat nie versprochen, dass das Land nach einem Jahr wieder aufgebaut sein wird.“