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SchlaglochDie DDR als Gespenst

■ Von Kerstin Decker

Mit mancher Theorie zur DDR ließen sich auch Kakerlakenrennen beschreiben

Schnitzler in die Muppets-Show!“ stand auf den Plakaten. Oder „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ Daneben ein Porträt von Egon Krenz. Mit Kopftuch. Gab es je eine revolutionäre Demonstration mit so viel Ironie und Gelassenheit wie jene, morgen vor zehn Jahren, mitten in Berlin? Ohne Hass. Hass verstanden die alten Männer der DDR. Was jetzt passierte, verstanden sie nicht. Es machte sie wehrlos. So verschied die DDR, eine Untote schon zu Lebzeiten, ohne letztes Gefecht. Und unbeweint.

War das zu einfach?

Wolfgang Thierse und Monika Maron diskutieren über die deutsche Einheit. Zehn Jahre später. Thierse sagt, dass er aus dem Osten kommt, habe er natürlich erst hinterher gemerkt. Wer empfand sich schon als DDR-Bürger in der DDR? Das muss sie sein, die späte Rache der Toten. Hatte Honecker nicht erklärt, kurz bevor er nach Chile ging, wir würden noch an sie denken? Er meinte die DDR. Der Geist der Verblichenen ist nach Art aller Gespenster sehr umtriebig geworden. Am liebsten kapert er jetzt echte Westler. Oder Menschen, die mal im Osten geboren wurden, aber in diesem Umstand noch lange keinen Grund erblickten, dort auch zu verweilen.

Alte Kulturen hatten großen Respekt vor den Geistern der Toten. Wir nicht. Die Alten fürchteten ihre Rache. Wir nicht. Das war sehr leichtfertig. Vielleicht hätten wir wissen müssen, dass die postmortale DDR es sehr übel nimmt, sie nicht gekannt zu haben. Besonders Menschen, die versuchen, trotzdem oder gerade deshalb über sie nachzudenken.

Machen wir das mal an einem Beispiel. Bei der Thierse-Maron-Diskussion war ja (außer Christoph Stölzl, dem Direktor des Deutschen Historischen Museums, sowie dem Gesprächsleiter) noch ein Fünfter anwesend. Unsichtbar, wie alle Gespenster. Man vermied, seinen Namen zu nennen. Bei Geistern muss man das. Thierse: „Den erwähnen wir heute nicht!“ Maron: „Seltsam, es kommt mir vor, als gäbe es zwanzig davon, dabei gibt es nur den einen.“ Und immer so weiter. Plötzlich fiel der Name doch. Thomas Roethe! Nie gehört? Verfasser des Buches „Arbeiten wie bei Honecker. Leben wie bei Kohl“. Monika Maron wurde bei diesen Silben wie von unsichtbarer Hand an die Rücklehne ihres Stuhles genagelt. Sie setzte noch ein entseeltes „Welch ein Schrott!“ gegen den Roethe-Geist, als Thierse sie geistesgegenwärtig beschwor: „Der Name! Nicht den Namen!“

Marianne Birthler, Bürgerrechtlerin, hat mir diese Art Abwehrmechanismus neulich bei Gelegenheit des Hannoveraner Soziologen Christian Pfeiffer erklärt. Das ist der mit der Töpfchen-Neonazi-These. Nicht schlecht, der Mann, findet Birthler, aufschlussreich aber seien vor allem die Publikumsreaktionen. Man stelle sich ungefähr dieselbe Verstocktheit vor, wie sie soeben der Bundestagspräsident und die Anti-DDR-Schriftstellerin zeigten. Vielleicht etwas drastischer. Was ist das?, fragte Birthler und diagnostizierte eine klassische Verdrängungsreaktion. Die Ost-Menschen könnten die Wahrheit nicht ertragen. Pfeiffer erklärt seine unermüdlichen Apostelreisen gen Osten auch so. Er komme, den Menschen die Wahrheit zu bringen. Er habe sofort schmerzlich gespürt, dass die Menschen die Wahrheit nicht hören wollen, woran man erkenne, wie nötig sie sie haben. Fürwahr ein Zirkel. Wie viel Wahrheit braucht der Mensch?

Nehmen wir also die Roethe-Wahrheit.

Natürlich habe ich gleich am nächsten Tag das Buch „Arbeiten wie bei Honecker. Leben wie bei Kohl“ gekauft und nach den ersten zehn Seiten das Unbegreifliche begriffen. Den humanen Wert der Zensur. Und warum es gut sein kann, wenn nicht jeder Mensch ein Buch veröffentlichen darf. Wie reich wären wir ohne dieses! In traditionellen Kulturen gibt es eine strenge Arbeitsteilung zwischen Kneipe und Buch. Auch dies, denke ich heute, war nicht ohne tiefe Weisheit.

Roethe schreibt die jüngere deutsche Geschichte neu. Das ist durchaus in Ordnung, weil es sonst gar nicht lohnen würde, überhaupt anzufangen. Woher, fragt der Autor, kommt es wohl, dass sich die Elendsviertel der USA vom Erscheinungsbild der vormaligen DDR durch ihre wohltuende Partialität unterschieden? – Antwort: Der 17. Juni 1953 war schuld. Von diesem denkwürdigen Datum leite sich der eigentliche Gesellschaftsvertrag der DDR her. Die Faulheit als System! „Zum Tag der Deutschen Einheit wurde ein Tag der Arbeits- und Aufbauverweigerung erklärt ... Noch im Verlauf des Juni-Aufstandes nahm die Deutsche Demokratische Republik die Arbeitsnormen zurück und handelte sich damit ein Dauerproblem ein, das bis 1989 fortwirkte, letztlich zu ihrem Scheitern führte ...“ Fazit: „Das System kann es wirklich nicht gewesen sein.“ Nein, es war die Faulheit – ein Erbe, das gerade dabei ist, die Bundesrepublik Deutschland zugrunde zu richten. Mit dem theoretischen Instrumentarium Roethes könnte man Verlauf und Ausgang eines Kakerlakenrennens erklären. Manche laufen gar nicht erst los. Roethe selbst fand auf Seite 181 die berückende Wortverbindung von der „intellektuellen Hinfälligkeit“. Sollte man für ein unbeirrt fleißiges Leben wirklich einen so hohen Preis entrichten müssen?

Ungefähr dort, wo Roethe die Inschrift am Lagertor von Auschwitz „Arbeit macht frei“ nicht eigentlich falsch und das Adolf-Hennecke-Lied (der DDR-Aktivistenbewegung) „überaus stimulierend“ findet, habe ich vorsichtshalber aufgehört zu lesen. Werden wir jetzt alle in die Lager müssen, vielleicht mit einem roten O an den Arbeitsjacken?

Alte Kulturen hatten großen Respekt vor den Geistern der Toten. Wir nicht.

Bücher wie das von Roethe machen hässlich im geistigen Sinne. Sie übertragen ihre von Sichtblenden verstellte Welt ohne Anmut, ohne Zwischenräume, ohne Toleranz auf den Lesenden. Jede wirkliche Erklärung ist Überschreitung des Alltagsbewusstseins. Sie taucht hinein in die systemischen Welten. Roethe dagegen dehnt Alltagsbewusstsein zum System. Der Aufstand des „gesunden Volksempfindens“. Roethe kommt nicht allein. Die Buchhandlung Frankfurt (Oder) weigerte sich Luise Endlichs „Neuland“ zu verkaufen, jene „ganz einfachen Geschichten“ darüber, was einer ganz einfachen Hausfrau zustoßen kann, wenn sie von der Stadt aufs Land geht. Brandenburger sind anders als Wuppertaler!, bemerkte Luise Endlich. Sie hielt das für ein Zeichen.

Und dann wäre da noch „It's a Zoni. Die Ostdeutschen als Belastung und Belästigung“. Es stand in der Buchhandlung gleich neben Roethe. Was für ein Titel! Sollte es das also doch noch geben, Bosheit mit Charme, das Spiel mit dem fremden Blick – ein diabolisches Humanum? Aber spätestens bei dem Satz „Wäre Hitler nicht Österreicher gewesen, wäre er aus der Zone gekommen“ war der Irrtum klar. Seltsamer Eifer, den ganzen Osten als tiefbraun zu erklären und nicht zu spüren, dass man anstelle von „die Zonis“ hier jederzeit „die Juden“ einsetzen könnte. Eine Anleitung zum Hass. Gelungene Satire aber, die Groteske überhaupt, liegt jenseits des Hasses. Sie braucht ihn nicht mehr.

Man erkennt es an Thomas Brussigs Büchern „Helden wie wir“ oder „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Mit diesen Schwejkiaden des Immoralismus sind wir wieder beim Herbst 1989. Beim 4. November vor zehn Jahren in Berlin.

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