Wollust und Weimar

Sensationen, Sex & Sittenfilme: Eine Cinegraph-Retrospektive im Metropolis präsentiert Sexualaufklärung der 20er  ■ Von Tobias Nagl

Vielleicht verdankt sich die Erfindung des Kinos einem spezifisch modernen Wunsch zu schauen. Für den mag man die unterschiedlichsten Gründe annehmen, psychische etwa, oder gar technikgeschichtliche. Gewiss ist aber eins: dass das Kino von Anbeginn an eine gigantische Voyeursmaschine war, gebunden an das, was Freud Schaulust nannte. Bereits in der Vorgeschichte des Kinos lässt sich diese Schaulust als tendenziell pornografische ausmachen, gruppiert um den Körper der Frau als Ort der Wahrheit, als Nexus des Willens zum Wissen, Knotenpunkt von Bild und Sexualität.

Bevor die Bilder tatsächlich laufen gelernt hatten, wählte Eadweard Muybridge für seine wissenschaftlichen „Bewegungsfotografien“ bereits vollständig entkleidete Frauenkörper – allein, um sie physikalisch auszumessen, physiologisch auf ihre Essenz zu reduzieren, die Mechanik der Frau offenzulegen. Einer der Reize, die das Kino in seinen Anfangstagen zu bieten hatte, waren gar nicht so sehr ausgefeilte Geschichten, sondern die Attraktion des Schauens selbst, der Blick auf Dinge, die sonst dem Auge verborgen blieben – Exotisches etwa, und natürlich Erotisches. Damit hatte der schlechte Ruf der Kinematografie maßgeblich zu tun, der sich weit über die Schmutz- und Schundkampagnen der 20er Jahre hinaus fortsetzte.

Denn was in diesen frühen pornografischen Kurzfilmen, dem „pikanten“ Film oder „stag film“, zu sehen war, war nicht immer, aber oft, was man auch heute unter Pornografie fasst: die Abbildung kopulierender Geschlechtsorgane. Wer solche unter der Hand kursierende Filme im wilhelminischen „Herrenzimmer“ zur Aufführung bringen konnte, war natürlich ein Angehöriger der herrschenden Klasse. Ändern sollte sich das erst mit der Erfahrung von Krieg und Novemberrevolution, die die Klassen- und Geschlechterverhältnisse, damit auch: erotische Bilderwelten, vielfältig zur Explosion brachten, mithin demokratisierten.

Neben „harter“ Pornografie war das eine ganze Schwemme von sogenannten „Sittenfilmen“, die auf die Auflösung sexualpolitischer Tabus reagierten – mit unterschiedlicher Tendenz. Auch die Weimarer „Sexploitation“ schwankte zwischen Ausbeutung und Aufklärung, wie die Veranstalter vom Filmhistorikerverein CineGraph ihren parallel sattfindenden Kongress untertiteln. Begünstigt wurde diese sexuell-kinematografische Wunschproduktion durch eine kurze, zensurfreie Phase des Kinos, die von 1918 bis zum Mai 1920 reichte und zu den unerforschtesten Gebieten der deutschen Filmgeschichte zählt. Allein die Titel dieser meist verschollenen Filme sind reine Poesie, die man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte: Ob da ein Schrei nach dem Weibe durch die Brautnacht im Walde hallte und Sündiges Blut zum Kochen brachte, oder Menschliche Hyänen den Kelch der Keuschheit im Saal der sieben Sünden leerten, um Eine Frauenschönheit unter dem Seziermesser zu begaffen – die Tragödie eines europäischen Rasseweibes war ausgemachte Sache.

So freizügig die Sujets der „Sittenfilme“ der Weimarer Republik für ihre Zeit waren, so sozialhygienisch verklemmt und heterosexuell normiert blieben sie in ihrer Ausgestaltung. Ihr Modus war der des Melodrams, ihre Klimax die suizidale der Tragödie. Wenn in Cyankali so gegen den Abtreibungsparagra-phen agitiert wird, dann natürlich nicht, ohne das mittellose Proletariermädchen der bourgeoisen Schnepfe mit Schoßhündchen gegenüberzustellen.

Und natürlich erhält letztere eine medizinische Indikation, während erstere nach dem Besuch bei der Engelmacherin verendet. Ein Film wie Geschlecht in Fesseln, klagt in reformerischer Absicht, die sexuelle Verelendung von Zuchthäuslern an – nur um, mit bisweilen expressionistischem Pathos, ein ganzes Horrorkabinet sexueller Verfehlungen anzudeuten, das seine Eheleute in den Doppelselbstmord treibt. So kurios sich diese Filme dem heutigen Auge präsentieren, mögen sie vielleicht auch ein bisschen klären helfen, warum wir heute so leben, lieben und begehren, wie wir das eben tun.

Dirnentragödie: heute, 21.15 Uhr Madame Lu, die Frau für diskrete Beratung: 5., 17 Uhr Eros in Ketten: 5., 19. Uhr Cyankali: 5., 21.15 Uhr Frauennot – Frauenglück 6., 17 Uhr Feind im Blut: 6., 19 Uhr Frauen, die man oft nicht grüßt: 6., 21.15 Uhr Zwischen Nacht und Morgen: 7., 17 Uhr Geschlecht in Fesseln: 7., 19 Uhr Anders als die Andern: 7. , 21.15 Uhr, Metropolis