Die tun mir leid!“

■ 4. November 1989: Über eine Million Protestler und ihre überaus witzigen Parolen

Heute vor genau zehn Jahren erlebte Ost-Berlin auf dem Berliner Alexanderplatz den bis dahin größten nichtstaatlichen Aufmarsch. Rund eine Million Menschen demonstrierten für freie Wahlen und demokratische Reformen in ihrem Staat. In Erinnerung geblieben sind vor allem die überaus „witzigen“ und „kreativen“ Parolen, mit welchen die Teilnehmer damals ihren Widerstand artikulierten und die bis heute als einzigartiges Zeugnis ostdeutscher Protestpoesie gelten. Über die Frage, wie die plötzliche Beredtsamkeit des 40 Jahre entmündigtenVolkes zu erklären sei, sprach die taz mit dem Dichter Karl Werner P., der zu den Dissidenten der ersten Stunde zählt.

taz: Karl Werner, du warst eines der ersten Mitglieder des Neuen Forums in Prenzlauer Berg. Wie habt ihr euch auf die Demo vorbereitet?

Karl Werner: Ob ich eines der ersten Mitglieder war, weiß ich nicht. Es kursierten damals Listen, die man unterschrieb, die hätten auch von der Stasi sein können. Die Demo war, wenn ich es richtig erinnere, von Theaterleuten angemeldet worden, und alle waren überrascht, dass sie dann auch genehmigt wurde. Die Euphorie war riesig, aber gleichzeitig kam man sich schon blöd vor, auf ein genehmigtes Dingens zu marschieren. Zum Vorbereiten blieb da kaum Zeit, es passierte alles ad hoc.

Warst du dann überrascht, als du gesehen hast, wie viele Menschen sich auf dem Alexanderplatz versammelt hatten?

Nö, das war abzusehen, das war ein Selbstläufer. Endlich gab's da mal eine Gelegenheit zum Luftablassen, praktisch ohne Risiko. Da kamen alle aus den Löchern, die sonst die Klappe gehalten haben, die bekannten Mitläufer-Nasen, die jetzt eben mit anderen mitliefen, weil sie das für aussichtsreicher hielten. Im Grunde war der Revolutions-Pudding am 4. November schon gegessen – nicht sehr schmackhaft.

Aber die vielen frechen Parolen und Losungen auf der Kundgebung zeugten nicht gerade von einer Mitläufer-Mentalität.

Doch, die gerade. Kaum einer von denen, die da mit einem Transparent herumgelaufen sind, hatte das ja selber angefertigt.

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Das war so ein typischer Bier-Einfall. Wir saßen am Abend zuvor im Friseurmuseum in der Husemannstraße, tranken, laberten hoch wichtig und komiteemäßig rum und stellten uns auf die Begegnung mit den üblichen Berliner Kodderschnauzen am nächsten Morgen ein. Da meinte einer, wir müssten uns von diesen Mitläufern absetzen, sonst wird es fürchterlich. Na ja, und dann ging's los.

Was ging los?

Die Transparent-Manufaktur. Das lief gleich generalstabsmäßig an über Telefon und Kuriere, die ausschwärmten. Plötzlich waren da etliche Leute mit Stoff und Farbe und Pappe und verschwanden wieder mit den fertigen Dingern zu Sammelstellen und Verteilungspunkten. Ich hab' die ganze Nacht wie ein Idiot Parolen und Losungen gedichtet. Und mindestens einen Kasten Bier getrunken.

Soll das heißen, dass du die alle allein getextet hast?

Die meisten. Das sind ja keine schwierigen Texte. Die gehen auf Zuruf. Jemand hat mir ein Stichwort zugerufen, dann habe ich noch einen Reim drangeklebt, fertig. Einer rief: „1. Mai“, und ich hab' geschrieben: „Vorschlag für den 1. Mai / die Führung zieht am Volk vorbei“. Oder „Phrasen“, und das hieß dann: „Der Dialog wird bald zur Phrase / drum gehn wir weiter auf die Straße“. Oder „Wandlitz“ – „Auf nach Wandlitz / schaut ihnen ins Antlitz“, „Wandlitzland in Volkeshand“ usw. Dankbar war auch „Krenz“, ich machte Dutzende: „Demokratie KRENZenlos!“, „Die Volkskammer – ein Krenzkontrollpunkt“ – die Sorte. Je später der Abend, um so blöder die Slogans.

Weißt du noch mehr Beispiele?

Nicht mehr viele, das war dann alles maschinell: „Stasi in die Produktion / für normalen Durchschnittslohn“, „Schnitzler in die Muppetshow / Kermit ins Politbüro“, „Glasnost! Und nicht Süßmost.“ Die Typen waren begeistert und haben die Schilder auch wirklich brav hoch gehalten. Als ich das sah, dachte ich nur: Die tun mir leid. Interview: Rayk Wieland