Hauptsache, das Herz schlägt

Vom quietschbunten Karneval des Post-Francismus zum Kino der empfindsamen Heldinnen: In „Alles über meine Mutter“ feiert der Spanier Pedro Almodóvar das Wahre im Trivialen – mit einer Heiligen Familie der anderen Art    ■ Von Birgit Glombitza

Im Kinoolymp von Pedro Almodóvar braucht man kein XX-Chromosom, um Frau zu sein

Das reine Herz braucht keine Diskretion. Es darf ungebremst plappern. Wie La Agrado. „Das einzig Echte an mir sind meine Gefühle“, bekennt sie unbekümmert auf die Frage, ob sie wirklich einen Chanel-Fummel trage. La Agrado (= „Die Angenehme“) ist auch nicht ihr richtiger, sondern ihr Prostituiertenname. Auf der Bühne hat sie eigentlich auch nichts zu suchen, aber die Vorstellung fällt aus, irgendjemand muss das Publikum vertrösten, und von Trost versteht die Hure eine Menge. Eine Frau ist La Agrado strenggenommen auch nicht. Und alles, was sie so aussehen lässt, ist bloß eine Frage chirurgischen Kunsthandwerks. „Gucken Sie mal her, Silikon hier, Silikon dort, noch ein Lifting, Lippen ,Backen, Busen, Hintern.“ Dazu rattert La Agrado die entsprechenden Preise mit der uncharmanten Genauigkeit einer Registrierkasse. Unbezahlbar wie das Paradies bleibe bei allen Eingriffen ihr Lächeln, sagt sie besitzerstolz und lächelt so paradiesisch es nur geht. „Am echtesten ist man wohl, wenn man sich selber immer ähnlicher wird“, so ihr Abschlussknicks vor dem naturbelassenen Wesentlichen, vor der liebgewonnenen Identität, vor der großen Sehnsucht hinter aller geborgten Geschlechtlichkeit. Echtheit kann ein teure Angelegenheit sein. Regisseur Almodóvar ist sie ein cineastisches Hohelied wert. Auf die Frauen, auf die Schauspielerinnen, auf die reinen Herzen.

Ledig, praktisch, gefühlsecht. So sind sie die biologischen und „nachgerüsteten“ Heldinnen im Reich des Pedro Almodóvar. In seinem jüngsten Film „Alles über meine Mutter“ erzählt er von jener Wahrheit, die erst im Künstlichen, im Illusionismus zwischen getürkter Markenware bis zu chirurgischen Täuschungen, zum Vorschein kommt. Sein Personal ist wie immer. Alltäglich und bizarr zugleich. Für all die überdrehten Transen, Huren, ungewollt Schwangeren, Junkies, Todkranken und sündigen Nonnen (die das Schicksal wie die schwangere HIV-positive Nonne Rosa [Penélope Cruz] hier gleich dreifach zusammenstaucht) ist im klassischen Kinoolymp kein Platz. Bei Almodóvar werden sie zu grell geschminkten Engeln, die das Wunderwerk der weiblichen Solidarität verkünden. Dazu braucht es keinen XX-Chromosomensatz, sondern nur eine empfundene Zugehörigkeit. Und zwar eine zutiefst empfundene, bitte schön. Schließlich macht Almodóvar nicht nur vor den Frauen seinen Diener, sondern auch vor den Melodramen des Douglas Sirk und nicht zuletzt vor Bette Davis in Joseph L. Mankiewicz' „All about Eve“.

„Alles über meine Mutter“ ist eine Hommage an die Maßlosigkeit der Gesten, die im Trivialen erst genügend Platz finden und mit jeder Träne eine aus der Mode gekommene Empfindsamkeit neu entdeckt.

Hauptsache, das Herz schlägt. Auch wenn es nicht das eigene ist, sondern vom unfalltoten Estéban stammt. Er wurde überfahren, als er für seine Mutter Manuela Cecilia Roth die Bühnendiva Huma Rojo (Marisa Paredes) um ein Autogramm bat. Als das EKG auf der Intensivstation Estébans Leben mit einer flachen Linie zu Ende malt, gibt Manuela das Herz zur Verpflanzung frei. Sohnlos macht sie sich auf die Suche nach dem Vater des Toten, der sich in Barcelona als Transsexuelle prostituiert und inzwischen nicht mehr Estéban, sondern Lola heißt. Während ihrer Odyssee macht sie die Bekanntschaft mit La Agrado und der alternden Diva Huma Rojo, die als Blanche du Bois in „Endstation Sehnsucht“ große Erfolge feiert, im Grunde aber ihre Bühnenfigur in Frust und Traurigkeit um Längen schlägt. Eine schwangere Nonne, Schwester Rosa (gespielt von Spaniens Antwort auf Wynona Ryder, Penélope Cruz), komplettiert die krisengeschüttelte Solidargemeinschaft.

Im Gesamtwerk Pedro Almodóvars stellt „Alles über meine Mutter“ so etwas wie den letzten Trilogieteil aus einer Periode dar, die man mit „Geschichten von echten Menschen“ übertiteln könnte. Vorbei der quietschbunte Karneval im Post-Franco-Spanien. All die Hysterikerinnen, Pappnasen und Subkulturblüten sind längst in der eigenen Geschichte angekommen. Wie „Mein blühendes Geheimnis“ widmet sich „Alles über meine Mutter“ ganz der weiblichen Trauerarbeit und ihrer Größe. Und wie in „Life Flesh“, dem zweitenTeil, verzahnt der Zufall mit der Präzision eines Uhrwerks Begegnungen und Absichten, verhilft erzählerischen Sackgassen zu tragischen Pointen, häufig mit tödlichem Ausgang.

Tod ist hier nicht gleich Tod. Manchmal trägt er die Aureole einer aufrichtigen Opfergabe oder einer Erlösungstat. Das Alltägliche an diesem Sterben rettet die Symbolik ein ums andere Mal vor jeglichem Wallfahrtskitsch. Mit seiner neuen Heldin Manuela macht sich Almodóvar verstärkt an die Säkularisierung der katholischen Ikonographie aus seiner Kinder- und Klosterschulzeit. Manuela, die um ihren toten Sohn trauert, ist eine bodenständige Maria-Variante, die im Kreise von La Agrado, Huma Rojo und Sister Rosa eine zeitgemäße Heilige Familie findet. Almódovar unterfüttert sie mit Mut, Unbedingtheit und einer Seele, geräumiger als die Sagrada Familia, die sich im Kamerabild hinter ihr aufbaut. Wo der Katholizismus seine Dogmen etabliert und die Gemeinde zum Wunder- und Allmächtigenglauben erzieht, setzt Almódovars Katechismus die alltäglichen Dramen als ein Gleichnis, das zu eigenen Überlebensformeln führt. Hochmut, Materialistentum und ignorierte Vaterschaft sind hier eindeutig zu dicke Dinger für das Nadelöhr zum Himmelreich der irdischen Liebe. Selbst das Thema Wiederauferstehung wird in Manuelas Passionsgeschichte mit der Geburt des dritten Estéban vererdet, den Schwester Rosa vor ihrem martyriumtauglichen Sterben noch in die Welt setzt. Der Film entscheidet sich, wie es sich für ein Melodrama gehört. Für das Schicksal, die Utopie und das Unglaubliche. Amen. „Alles über meine Mutter“. Regie: Pedro Almodóvar. Mit Marisa Paredes, Penélope Cruz, Antonia San Juan, Eloy Azorin. Spanien/Frankreich 1999, 105 Minuten