„O.k., ich nehme den Westpass“

■  In der Bundesrepublik gibt es Geld, ohne was dafür zu tun. Zum Beispiel, wenn die Mauer fällt: 100 Mark Begrüßungsgeld. Dann verliert man seinen Ausweis und bekommt noch einmal das Gleiche. Ein Auszug aus Falko Hennigs Roman „Alles nur geklaut“

Vorerst war die Aufregung groß, mein Onkel hatte in Erwartung von uns die Nacht bei viel Bier durchgewacht. Er rief jetzt alle möglichen Boulevardzeitungen an und erzählte von diesen tollkühnen Jugendlichen, die mit dem Faltboot durch die Donau entkommen seien.

Wirklich tauchten dann zwei Journalisten auf, die Franz und mich zum Dom fuhren und uns dort mit zwei halbbekleideten Damen für den Express fotografierten. Alles war neu für uns: die schlanken kleinen Kölschgläser, die Gitter in den Pinkelbecken mit kleinen Seifenstücken darin, die Wasserhähne, die sich von alleine anschalteten, wenn man die Hände ins Waschbecken steckte, die riesigen Kaufhallen und Märkte, die Buchläden mit den ganzen Büchern, die man in der DDR nicht lesen durfte. Gerade diese Buchläden und ihre Auswahl waren es, die ich am meisten bewunderte. Franz und ich zogen in eine sündhaft teure, winzige Wohnung. Ich suchte mir Arbeit bei einer Zeitarbeitsfirma, mein Onkel hatte mir gesagt: „Du musst Arbeit haben, sonst bleibst du immer außen vor.“

*

Und ich hatte ihm geglaubt. Ich schuftete in Kartonfabriken, in Lagern von Lebensmittelketten, schob stumpfsinnige kleine Wägelchen durch lange hohe Regalreihen und packte auf das Wägelchen: 20 Flaschen Ballantines, 24 Packungen Whiskas, 23 Flaschen Jack Daniels, 56 Packungen Lenor. Den ganzen Tag, und ich hasste es, und ich hasste meinen Onkel wegen seiner idiotischen Ratschläge.

Denn es gab etwas, eine Institution, eine unglaubliche Erfindung, etwas, was sie sich in der DDR niemals getraut hätten. Sie bezahlte einem Geld, ohne dass man arbeiten musste: das Arbeitsamt. Kurzzeitig hatte ich Geld bekommen von diesem Amt, dann aber meinem Onkel geglaubt, dass mir irgendwelche wichtigen Zusammenhänge verborgen bleiben würden, wenn ich nicht arbeitete. Ich schob Wagen um Wagen durch die Regalreihen: 19 Flaschen Ballantines, 13 Packungen Whiskas, 54 Flaschen Jack Daniels, 28 Packungen Lenor. Es war traurig und zum Verzweifeln. Da draußen waren die Buchläden, die Bibliotheken, das Leben. Und ich füllte einen neuen Wagen: 25 Flaschen Ballantines, 28 Packungen Whiskas, 13 Flaschen Jack Daniels, 37 Packungen Lenor.

*

Es kam, wie wir vermutet hatten: Die DDR machte für ihre Leute erst Ungarn, schließlich sogar die Tschechoslowakei dicht, als sie bemerkten, dass sonst die DDR-Bevölkerung einfach verschwinden würde.

Aber noch etwas geschah, etwas, mit dem ich nie im Leben gerechnet hatte: Es gab Demonstrationen in der DDR, sie gründeten Parteien, und kurzzeitig sah es aus, als würde die SED alles zusammenschießen lassen. Ich saß vor dem Fernseher, sah die verwirrenden Fernsehberichte und begann wirklich zu bereuen, abgehauen zu sein. Dieser ganze Stillstand, diese Lähmung, die jedes Stäubchen befallen hatte, das alles schien beendet zu sein, und schließlich waren die Leute in der DDR einfach netter als im Westen.

Warum also sollte sich da nicht ein Land machen lassen, dass die Vorzüge aller Länder miteinander vereinigte? So frei wie Amerika, so guter Wodka wie in Russland, Autos wie von Mercedes, die Freundlichkeit Asiens, mit der Effizienz Westdeutschlands und das gute Bier der Tschechei, warum sollte es nicht möglich sein, ein solches Land aufzubauen? Ich hatte das Gefühl, am falschen Ort zu sein, hier vor diesem Fernseher in Köln, ich müsste bei diesen Demos in der DDR sein, Parteien aufbauen, Transparente hochhalten auf denen stehen müsste. „SED? Nee!“ [...]

*

In der DDR, ich sah es im Fernsehen, schien Bürgerkrieg zu herrschen. Massenhaft wurden Leute eingesperrt und zusammengeschlagen. Ich saß vor dem Fernseher und hatte trotzdem noch das Gefühl, am falschen Ort zu sein. [...)] Wenn ich im Fernsehen die Lastwagen der Volkspolizei mit Demonstranten durch die Berliner Straßen fahren sah, dann hatte ich das Gefühl, dass ich dort oben mit sitzen müsste auf der Ladefläche, einem ungewissen Schicksal entgegen.

Aber ich war für die schlicht ein Verbrecher, in der DDR drohte mir das Gefängnis. Dann trat endlich Honecker zurück. Krenz übernahm den Laden und verkündete eine Amnestie. Ich besorgte mir ein Flugticket nach Berlin, in ein paar Tagen war es so weit, ich konnte zurück.

*

Es war November, sie machten eine riesige Demo auf dem Alexanderplatz. Abends waren dann die Oppositionellen im DDR-Fernsehen. Ich fuhr weiter jeden Morgen in das große Lager: 24 Flaschen Ballantines, 10 Packungen Whiskas, 14 Flaschen Jack Daniels, 9 Packungen Lenor, doch in Gedanken war ich längst wieder in der DDR.

Ich schaute alles im Fernsehen, nach Feierabend, wenn ich zerschlagen und erschöpft nach Hause gekommen war. Der Tag meines Abflugs rückte näher, und dann war da diese unverständliche Pressekonferenz mit einem SED-Funktionär. Inhaltlich war sie lapidar und besagte nichts weiter, als dass Ausreisewillige bei der Polizei einen Antrag stellen könnten.

Doch aus irgendeinem Grund sammelten sich an der Ostberliner Seite der Mauer Menschen an, im Radio wurde darüber berichtet, und noch mehr Menschen kamen dazu. Schließlich waren es so viele, dass sie die Grenzübergänge öffneten, die Trabis knatterten über den Ku'damm. Es war der Abend des 9. November, ich schaute auf mein Flugticket, um mich zu vergewissern. Es galt für den 10. November, 7 Uhr morgens.

*

Das Flugzeug schwebte in einer Schleife über Ostberlin ein, man konnte die Autoschlangen an den Grenzübergängen sehen. Dann landete es in Tegel. Ich hatte noch meinen blauen DDR-Personalausweis, es war nicht zuletzt eine Geldfrage. Denn als Westdeutscher zu Besuch in Ostberlin müsste ich noch immer diese 25 Mark im Verhältnis 1:1 umtauschen, der ungünstigste aller Wechselkurse.

Aber es war so voll, ich war auf direktem Weg zum Grenzübergang am Moritzplatz gefahren, auf Ostberliner Seite hieß er Heinrich-Heine-Straße. Die Menschenmenge wurde dichter und dichter, und ich war immer noch unsicher. Was, wenn sie mich kontrollierten und meinen westdeutschen Pass fanden? Andererseits die Scherereien, die ich als Westdeutscher durchstehen müsste: Visum ausstellen lassen, der Zwangsumtausch, womöglich noch blöde Fragen. Ich zeigte den blauen Personalausweis hoch, niemand kontrollierte, niemanden interessierte er auch nur. Die Grenzer hatten vor den Massen aufgegeben und winkten nur noch durch, ich war wieder in Ostberlin.

Es war eine großartige Stimmung, die Mauer war allen über die vielen Jahrzehnte so normal geworden, dass es wie Irrsinn, wie ein Erwachen aus einem totenähnlichen Schlaf schien, dass sie nun offen war. Ich versuchte, einige Freunde von früher zu erreichen, doch die waren alle weg, ich konnte mir schon denken, wo.

Schließlich traf ich doch einen Mitschüler von der Abendschule und seine Freundin, Peter und Simone, wir fuhren hin und her, nach Westen und Osten. Man konnte in Westberliner Kneipen mit Ostgeld bezahlen, wir feierten das Wiedersehen, den Fall der Mauer.

Wir nahmen ein Taxi: „Oranienburger Straße!“, sagte der Peter, der schon den halben Tag Westberlin ausgekundschaftet hatte. Der Fahrer fuhr uns, es begann waldig zu werden.

„Fahren Sie auch wirklich zur Oranienburger Straße in Kreuzberg?“ fragte Peter.

„Ihr meint die Oranienstraße?“ fragte der Taxifahrer.

„Ja ja, genau, so war der Name.“ Der Fahrer schaltete die Taxiuhr aus, wendete, fuhr abrupt bei einer Kneipe rechts ran und sagte: „Endstation! Alles aussteigen!“ Wir stiegen verdattert aus, wir waren in einem völlig fremden Stadtteil. Der Taxifahrer gab Peter einen 20-Markschein und sagte: „Hier! Nehmt euch ein Taxi!“ Damit verschwand er in der Kneipe.

*

Der Westen zeigte sich spendabel für die DDRler: Jeder von ihnen bekam 100 Mark West. An den Westberliner Banken, die das Geld verteilten, bildeten sich lange Schlangen. In den Banken versuchten sie sicherzustellen, dass jeder DDR-Bürger nur einmal Geld bekam, indem sie den Personalausweis abstempelten. Es war zwar nicht so viel Geld, aber leicht verdient. Nach einer halben Stunde Anstehen war ich um 100 Mark reicher und hatte in meinem Ost-Personalausweis auch so einen Stempel.

Die Freunde von mir in Ostberlin arbeiteten mit allen Tricks: Sie meldeten ihre Personalausweise als gestohlen, um neue ausgestellt zu bekommen. Das kostete 20 Mark Ost und brachte bei der erstbesten Westberliner Bank 100 Westmark.

Sie rissen sich die Seiten mit dem Bankstempel heraus. Wenn der Bankbeamte nicht die Nummerierung des Ausweises überprüfte, dann waren auch das wieder 100 leicht verdiente Westmark. Manche arbeiteten mit verschiedenen Ausweisen, von denen sie Seiten hin- und herklebten.

*

Ostberlin, Westberlin, es ging hin und her, U-Bahnstationen, von deren Existenz man nie geahnt hatte, wurden auf Ostberliner Seite eröffnet und verwandelten sich so in Grenzübergänge. Und da, es war die U-Bahnstation Jannowitzbrücke, geschah es, als ich nach Westberlin wollte, um mein Flugzeug zurück nach Köln zu nehmen.

Ein Grenzbeamter hatte meinen blauen DDR-Personalausweis in der Hand und forderte mich auf, meine Taschen zu leeren.

Dort war er dabei, unübersehbar, ein roter nagelneuer westdeutscher Pass. Der Grenzbeamte nahm ihn von dem Tischchen, verglich ihn mit dem Personalausweis, kein Zweifel, es war diesselbe Person.

„Da können Sie aber nur einen von haben“, sagte er, „Sie müssen sich schon entscheiden!“ Ich überlegte, einerseits der Personalausweis, doch andererseits wollte ich nach Holland, nach Norwegen, sonstwohin. Da bekam ich sicherlich Probleme mit einem blauen DDR-Personalausweis. Und das Begrüßungsgeld hatte ich auch.

„O.k.“, sagte ich, „ich nehme den Westpass.“

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Maro Verlages