Als das Fernsehen talken lernte

Vor 25 Jahren startete die Talkshow „3 nach 9“ auf Radio Bremen. Noch immer ist die kontroverse Kneipenrunde eine angenehme Ausnahmeerscheinung    ■ Von Gerd Hallenberger

Fernsehjubiläen unterliegen einer eigenwilligen Ökonomie: Je mehr Fernsehen es gibt, desto seltener werden sie. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass von all den in den 90er-Jahren eingeführten Sendereihen wohl keine einzige 25 Jahre alt werden wird.

Die von Radio Bremen produzierte Talkshow „3 nach 9“ hat dieses bemerkenswert hohe Alter erreicht, und das ohne zu einem fossilen Überbleibsel aus einer untergegangenen Fernsehzeit zu werden wie etwa „Derrick“. Im Gegenteil: Was „3 nach 9“ bis heute vorführt, ist ein kleines Stück realisierte Fernsehutopie. Genau genommen hat es „3 nach 9“ in seiner Geschichte sogar geschafft, zwei unterschiedliche Utopien zu realisieren. „3 nach 9“ war am Anfang eine geradezu revolutionäre Sendung – aus völlig anderen Gründen hat sie bis heute eine Ausnahmeposition.

Zu den Anfängen: Wir schreiben das Jahr 1974 und im bundesdeutschen Fernsehen gibt es etwas völlig Neues. Es nennt sich „Talkshow“ und feiert seine Premiere im März im Dritten Programm des WDR. Dietmar Schönherr moderiert erstmals „Je später der Abend“, eine von amerikanischen Vorbildern inspirierte Reihe, die Schönherr zusammen mit Peter Hajek entwickelt hat. Andere Produktionen anderer Sender folgen, ohne dass sich unbedingt zwingende eigenständige Konzepte für dieses neue Genre zeigen. Wie groß die Unsicherheit darüber ist, was man mit diesem neuen Ding aus den USA anfangen soll, veranschaulicht vor allem das ZDF: In der von Walter Schmieding moderierten Talkshow „Zu Gast beim ZDF“ (Start: 1975) unterhält sich Schmieding mit dem deutschstämmigen amerikanischen Talkshow-Moderator Dick Cavett darüber, was denn eine „Talkshow“ sei.

Die Verunsicherung hat gute Gründe, nicht zuletzt sprachliche. Der Begriff „Talkshow“ meint in den USA etwas völlig anderes als in der Bundesrepublik. Dort bedeutet „Show“ einfach „Sendung“, in der BRD steht der Begriff für große Bühnenunterhaltung. Als Konsequenz dieses Missverständnisses wird für den Leiter derartiger Inszenierungen sogar eine neue Bezeichnung erfunden: Zur „Show“ gehört der „Showmaster“, zur „Talkshow“ also der „Talkmaster“. Dass dieses Wort in der englischen Sprache nicht existiert, stört niemand. Es musste geradezu erfunden werden, da die übliche amerikanische Bezeichnung des Moderators, „Host“ – „Gastgeber“, auf Deutsch fremd klingt – es erinnert zu sehr an „Hostie“. Die Situation war also kompliziert. Die ersten Talkshows waren vor allem das, was in der englischen Sprache als „mittatlantisch“ bezeichnet wird: nicht eigentlich amerikanisch, aber auch nicht richtig europäisch – eher in den (großen) Teich gesetzt. „3 nach 9“, die in der Chronologie zweite bundesdeutsche Talkshow überhaupt, war dabei die bemerkenswerte Ausnahme von der Regel. „3 nach 9“ imitierte nicht amerikanische Vorbilder, „3 nach 9“ erfand die Talkshow neu. Auf die grundsätzliche Frage: Was ist eigentlich Fernsehunterhaltung?, gibt es nicht zuletzt eine ganz einfache Antwort. Fernsehunterhaltung ist, wenn sich Menschen vor der Kamera unterhalten, damit sich Menschen vor dem Bildschirm unterhalten. Um welche Menschen, welche Themen und welche Gesprächsinszenierungen es sich dabei handelt, ist kultur- und zeitabhängig. In der BRD des Jahres 1974, einer Gesellschaft mit großem Diskussionsbedarf und -interesse, war „3 nach 9“ ein einzigartiges mediales Forum: Hier wurden nicht nur brav Prominente abgefragt wie in anderen Talkshows, es kamen auch Unbekannte zu Wort, wenn sie zu einem Thema etwas zu sagen hatten. Selbst Moderation und Saalpublikum durften ihre Meinung äußern, und die Redaktion schaltete sich durch kommentierende Texteinblendungen in die laufende Sendung ein – eine geradezu geniale Variante von selbstreflexivem Fernsehen, für die heutigen Sendern leider der Mut fehlt. Einzigartig war auch die Gestaltung des Schauplatzes. Wo finden in der Bundesrepublik die intensivsten Diskussionen statt? In der Kneipe – und konsequenterweise fand die Talkshow in einer simulierten Kneipe statt.

„3 nach 9“ basierte auf einer Idee des neuen Programmdirektors von Radio Bremen, Dieter Ertel, die er zuvor mit geringem Erfolg bei seinem letzten Arbeitgeber, dem Süddeutschen Rundfunk, umzusetzen versucht hatte. Aus dem ursprünglichen „Antimagazin“ wurde schließlich eine Talkshow. Neben Ertel waren daran vor allem die Redakteure Rolf Tiesler und Wolf Neubauer, Chefredakteur (und Mit-Moderator) Gert von Paczensky und Michael Lekkebusch (bekannt aus „Beat-Club“ und „Musikladen“) als Regisseur beteiligt. Im Zeitalter zunehmender „Ausgewogenheit“ des Fernsehens war das Resultat der Bemühungen geradezu ein „anarchistisches Feuerwerk“ – so der Spiegel 1984 in einem Rückblick. „3 nach 9“ war unberechenbar, bisweilen chaotisch; ein Fernsehangebot, dessen kontroverser Inhalt wichtiger war als eine glatte Verpackung. „3 nach 9“ hat in seiner Geschichte oft Aufsehen erregt – etwa als ein Kameramann seinen Arbeitsplatz verließ, um mit einem prominenten Gast zu diskutieren, oder das legendäre „Wasserpistolen-Attentat“ von Fritz Teufel auf den damaligen Bundesfinanzminister Hans Matthöfer. Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums werden diese und andere Anekdoten aus der Sendungsgeschichte gerne und überall nacherzählt, aber es sollte auch nicht vergessen werden, welche Moderatorinnen und Moderatoren „3 nach 9“ über die Jahre lebendig gehalten haben – von der Anfangsbesetzung mit Marianne Koch, Wolfgang Menge und Gert von Paczensky über beispielsweise Dagobert Lindlau, Günther Nenning, Lea Rosh und Carmen Thomas bis hin zu Amelie Fried und Giovanni di Lorenzo. Auch heute ist „3 nach 9“ noch ein kleines Stück verwirklichte Fernsehutopie. Da sich die Zeiten und das Fernsehen geändert haben, ist es zwar nicht mehr das „anarchistische“ Fernsehen, dafür aber etwas nicht weniger Wichtiges. Talkshows gibt es mittlerweile in Mengen und fast rund um die Uhr, aber nur wenige Gespräche, die nicht auf schnelle Effekte abzielen. „3 nach 9“ und wenige andere Sendereihen erinnern daran, dass zur Kultur auch so etwas Altmodisches wie „Gesprächskultur“ gehört – und dabei sogar die besseren Pointen herauskommen können.

Im Uhrzeigersinn: „3 nach 9“-ModeratorInnen Marianne Koch, Wolfgang Menge, Lea Rosh, Amelie Fried, Giovanni di Lorenzo und Gerd von Paczensky Fotos: Radio Bremen

Der Autor arbeitet als Medienwissenschaftler an der Uni Siegen