Weg wie eine warme Semmel

Warum verlässt ein Gründungsrektor seinen Campus, wenn die Vorlesungen beginnen? Über Peter Glotz, Jalousien, japanische Professoren und Erfurter Mühsal  ■   Von Thomas Gerlach

„Das ist doch zum Kotzen, wenn irgendein Oberamtsrat über jede 1b-Stelle hier entscheidet! Das dauert!“

Peter Glotz hat den Adlerblick aufgesetzt. Nein, er habe kein Problem mit der Ministerin, aber ... – Glotz kramt in einer Mappe, Frau Schipanski hat da ein Interview gegeben – „Hier!“ Er liest laut: „Alle Universitäten in den neuen Ländern sind Reformuniversitäten.“ Der Zeigefinger rutscht nach unten: „Insofern kann sich die Universität Erfurt in einen guten bestehenden Reigen einordnen.“ Glotz schaut auf: „Ein Rrreigen!“ Es ratscht wie eine Fräse. Er muss ein Monstrum in den Mund nehmen. Reigen! Verachtung. Ein Reigen! Die Passage auf dem Papier ist dreifach gesichert: Schwungvoll eingekreist, unterstrichen und geklammert. Wie ein Staatsanwalt steht Glotz in seinem Rektorenzimmer und schwenkt das Papier: „Wenn Sie wollen, lass ich das kopieren!“ Glotz ruft die Sekretärin, reicht das Blatt hinaus. Noch ist er Rektor in Erfurt. Die verbleibenden Tage kann er zählen. Keine Frage, ihn reize das Angebot aus Sankt Gallen. Er geht.

Dagmar Schipanski, Bernhard Vogels christsoziale Entdeckung für die Bundespräsidentenwahl, ist im Oktober als neue Wissenschaftsministerin nach Erfurt gekommen, die Physikerin hat ihre Formel zu dem Phänomen skizziert. Der Reigen, naturwissenschaftlich betrachtet: Kein Anfang, kein Ende, kein oben, kein unten. Und erst recht keine Überflieger. Alle Rektoren reichen sich die Hände, ein Reformtanz beginnt, und der Taktstock wird in Erfurt geschlagen. Im Ministerium, nicht auf dem Campus. Dagmar Schipanski war bis zu ihrer Amtsübernahme Rektorin der Technischen Universität Ilmenau, 40 Kilometer hinter Erfurt.

Glotz hat sich gesetzt. Im stahlblauen, knitterfreien Dreiteiler sitzt er inmitten geschwungener Möbel, grell und tief fährt die Herbstsonne in das Zimmer, auf das blau-grün getupfte teppichgroße Ölbild, auf die Videos und die paar Bücher im Schrank. Glotz könnte hier vom ersten Stock auf den Campus blicken, das Laub tanzen, die Herbstastern blühen, Studenten schlendern sehen. Doch die Sonne. „Seit August sind wir hier auf dem Campus, und es gibt immer noch keine Jalousien!“ Die müssen genehmigt werden. „Das dauert, sag ich Ihnen!“ Sozialdemokrat Glotz setzt sich um, Sonne und Campus nun im Rücken. Ja, ja, das stimme mit der Bürokratie. „Das ist doch zum Kotzen, wenn irgendein Oberamtsrat über jede 1b-Stelle hier entscheidet!“ Und, ruhiger, da ist auch noch die Familie: „Ich habe meine Frau nicht dafür gewinnen können, nach Erfurt zu ziehen.“ Den einjährigen Sohn sehe er nur am Wochenende. Sankt Gallen liegt näher bei München. Sankt Gallen ist ein Segen.

Ja, die Studenten. Die hatten ihn zur Rede gestellt, als es raus kam, dass er geht. Die hatten sich viel erhofft von Peter Glotz, dem Zugpferd. „Natürlich schmeichelt mir das, wenn Studenten sagen, dass sie wegen mir nach Erfurt gekommen sind.“ Aber nach 2001 wäre sowieso Schluss gewesen. Eine Reformuniversität lässt sich eben nicht in ein paar Jahren aufbauen. „Und ein Jahr lang bleibe ich ja noch als Lehrender hier. Da kann jeder noch Seminare bei Glotz belegen“, sagt Glotz. Und dann prophezeit er: „Auch in drei Jahren ist die Universität nicht gesichert.“ Wenn in den nächsten Jahren die hiesigen Professoren Rufe aus München oder Berlin erhalten, müsse Erfurt bei der Finanzierung drauflegen. Der Verteilungskampf zwischen den Thüringer Hochschulen ist schärfer geworden, seit die „Reformuniversität“ mit ihrem prominenten Rektor am Zahlschalter drängelt: Ilmenau, Jena, Weimar, und jetzt auch Erfurt. Anfangs wurde verteilt: Die Erfurter bauen eine Uni-Bibliothek? Da gibt's doch auch für Jena eine neue? Und um die Rangordnung wieder herzustellen, achteten die Jenaer Professoren penibel darauf, dass bei ihnen der erste Spaten ein paar Tage früher in die Erde gerammt wurde. Bei Glotz gibt's Kommunikationswissenschaften? Da verträgt doch Weimar sicher noch einen dritten Medien-Studiengang. Seit diesem Semester werden an der Bauhaus-Universität auch noch „Medien-Systeme“ gelehrt. Im Reigen wird jetzt das Gezerre heftiger. Und der Geldsack schmaler. Und keine Aussicht auf Studiengebühren. Glotz weiß das. „Ich habe die Universität Erfurt nicht erfunden! Das war Vogel.“ Der Schwarze Peter also.

Vieles ist unsicher. Sankt Gallen ist sicher – und elitär.

Peter Glotz ist aufgestanden, geht zur Tür. Die Delegation aus Thailand komme gleich, flüstert im Vorzimmer die Sekretärin. Ein Handwerker balanciert dort auf einer Leiter, fängt an zu schrauben. Am Boden liegen Kartons. Die Jalousien sind da! Als ob die Bürokraten einen Versöhnungsboten geschickt hätten. Peter Glotz nimmt es hin. Er muss jetzt mit seiner Frau telefonieren, kehrt Sekretärin, Hausmeister und Tür den Rücken. Einzige Gesellschaft im Zimmer: 15 Bücher. 15-facher Autor: Peter Glotz.

„Na, das mit dem warmen Semmeln haben manche Studenten missverstanden.“ Michael Giesecke lümmelt sich in seinem neuen Zimmer und das Jackett lümmelt sich auf Giesecke, es hüllt ihn ein, weich und ohne Halt wie eine Sofadecke. Giesecke hat die Beine ausgestreckt, die Hacken liegen auf der Tischplatte, der Oberkörper schmiegt sich an die Lehne. Bei seiner Einführungsvorlesung hat Glotz dieses Bild mit den warmen Semmeln bemüht und die Studenten, die so weggehen werden. Das war was für die Kamerateams, die Presseleute. „Tja, er hat nicht gesagt, dass er die Brötchen auch backen wird.“ Giesecke ist Experte für dialogische Kommunikation und Glotz' Kollege im Fachbereich Kommunikationswissenschaften. Der Professor hat ein Ohr für Zwischentöne. „Glotz hat die Backöfen besorgt und aufgestellt. Das ist doch 'ne ganze Menge. Das muss man ihm lassen.“ Giesecke räkelt sich. Wenn Glotz in die Schweiz abgereist ist, bleibt er als einziger Professor im Fachbereich zurück. „Wir müssen hier erst ein Profil entwickeln.“ Da soll es doch die Unterhaltungspublizistik geben, eine Idee von Glotz?

„Unterhaltungspublizistik.“ Giesecke spricht es aus, nein, er pflückt das Wort wie eine Blume. Eine Blume, die duftet, doch nicht auf den Campus gehört. Thomas Gottschalk könnte unterrichten? Vielleicht. „Das Studium als Event.“ Giesecke pflückt auch dieses Wort, doch es duftet nicht. Auf seiner Stirn kräuseln sich Falten. Erfurt – eine Reformuniversität mit Fernsehkameras und Autogrammen? Große Namen gibt es schon. Glotz hat sie geangelt: Robert Leicht von der Zeit bietet eine Übung über Bilder und Worte an, Wolfgang Leonhard liest über die russische Revolution. Solche Leute kann sonst keiner in Thüringen vorweisen. Und außerdem ist da noch Glotz. Bis Dezember. Erfurt muss sich unterscheiden, Medienstudiengänge bietet jede Thüringer Hochschule an. Doch der nagelneue Hochglanzprospekt der Universität gibt sich in diesem Punkt wortkarg: Internet zählt er als weiteren Schwerpunkt auf, redet von „Schlüsselqualifikationen“. Ganz vorn verkündet das glatte Heft den Deutschen: „Zukunft ist jetzt“ und der Welt: „The future ist now.“ Ein doppelter Peter Glotz schwärmt zweisprachig von seinem „Labor für Neuentwicklungen im deutschen Hochschulwesen“. Michael Gieseckes Laborbeitrag ist der „rückkopplungsintensive Dialog“, der intime interaktive Austausch, Zweiergespräche, Nonverbales. Professor Glotz ist eher für das Grobe zuständig: Massenmedien, Unterhaltung, starke Sprüche und Visionen – Deutsch und Englisch. Die Welt soll hören können. Und kommen.

Kenji Oda ist schon da, seit August. Der Japaner sitzt in der „Klause“, einer Campus-Kneipe, mit hängenden Schultern stochert er auf dem Teller herum, die Strickjacke baumelt, der Blick ist freundlich, die Metallbrille groß. Ein Stöhnen entfährt seinem Mund, so als ob er sich etwas eingetreten habe. „Ja, ich reagierte ziemlich stark! Ich war sehr wütend. Ich schrie auf japanisch!“ Kenji Oda spricht akzentuiert. Er nickt mit dem Kopf, hackt die Sätze zurecht, wenn sie schon auf den Lippen sind, und formt dabei eine harte, kehlige Melodie. In Erfurt ist er neben Glotz der bekannteste Universitätsmitarbeiter, seit die Lokalzeitungen sein Foto gedruckt haben. Bild titelte: „Gelehrter aus Japan warnt Landsleute vor Thüringen.“

In der Straßenbahn pöbelten Skins Kenji Oda als „Fidschi“ an. Da sich ein Erfurter dazwischen stellte, kam es nicht zu Handgreiflichkeiten. Oda wollte den Vorfall nicht an die große Glocke hängen, doch als er erfuhr, dass am selben Tag in der Stadt eine Japanerin auf der Straße geschlagen wurde, schrieb er ein Pamphlet an die Glatzen: „Ich wäre stolz, ein Fidschi zu sein!“ Leider sei das malerische Eiland von seiner Heimat so entsetzlich weit entfernt wie die Mongolei von Deutschland. Über E-Mail hat er seine Landsleute hier und in Japan informiert. Damit versetzte der Historiker Innenminister, Oberbürgermeister und Rektor in Schrecken. Medienrummel dieser Sorte ist blankes Gift für die Glotzschen Universitätspläne. „Unerträglich“, nennt Glotz diese Vorfälle in der Stadt. „Ich habe da gleich draufgehauen.“

Kenji Oda sitzt in der „Klause“, als habe er dabei aus Versehen auch ein paar Schläge abbekommen. Es scheint fast so, als tue ihm die Sache leid. Wenn er jetzt mit seinen Landsleuten mailt, vermeidet er den Namen Erfurt, schreibt unverfänglich von „einer Stadt in Ostdeutschland“ und betont, die Erfurter seien nett und offen. In einem ist sich Oda ganz sicher: „Besser, es ist jetzt passiert als später!“ Klar ist nun, die Universität gefährden nicht nur Verteilungskampf, Bürokratie und der Weggang von Glotz. Im November reist der erste Gastprofessor von der Tokio-Universität an. Ein Kollege hat sich unterdessen zu Oda gesellt: „Wenn das bei dem passiert, können wir hier gleich einpacken“, sagt er.

Das wissen auch die Studenten. Eben noch haben sie mit „Papa Peter“ auf der Balustrade gestanden, die Pokale erhoben, die Uni-Fahne geschwenkt. Jetzt brummt der Schädel. Peter Glotz hat sie gelockt, Köder ausgelegt, besoffen gemacht mit Euphorie, das mit den Semmeln in die Welt gesetzt. Andreas, Stefanie und Jörg, drei von 244 Neuimmatrikulierten, sitzen in der Kneipe wie geprellte Besucher und reden sich den Frust vom Leib. „Die einzige Semmel, die raus geht, ist Glotz!“ Andreas kam aus Hamburg an die Glotz-Uni.

Glotz-Uni? Auf Peter Glotz ist hier keiner gut zu sprechen: Hier hätte er sein Sankt Gallen aufbauen können. Der hat mit 60 jetzt Torschlusspanik gekriegt. In der Schweiz kann er nicht verlieren. Forschen kann der auch hier, wenn er will. So reden sie in der Kneipe, unter demselben Dach, unter dem Glotz residiert. Es ist Mittag, 40 Meter entfernt im ersten Stock arbeitet der Rektor, kotzt wegen der Bürokratie, telefoniert mit Sankt Gallen oder seiner Frau. Der Respekt ist weg. Das universitäre Labor ist mit einem Scherbenhaufen eröffnet.

„Dass der jetzt seinen Hut nimmt, fällt doch negativ auf uns zurück!“, sagt Andreas. „Und dass ein Prorektor geht, auch. Dabei war das schon lange raus und hat nichts mit Glotz zu tun.“ Aber dann deuten die drei doch noch an, dass sie gute Erfurter Studenten sein werden. „Wir wollen uns doch hier nicht ins gemachte Nest setzen. Wenn die Reform gelingt, haben wir ja auch was davon.“ In knapp drei Jahren werden sie ihren Bachelor in der Tasche haben. Schneller als noch die meisten Studenten in Deutschland können die Erfurter mit international anerkanntem Abschluss auf Jobsuche gehen und bei Personalchefs anklopfen. Da erst werden die Erfurter Semmeln geprüft.