■ H.G. Hollein: Geradeheraus
Die Frau, mit der ich lebe, sagt, ich sei ein Diplomat. Aber kein guter. So hätte ich zwar neulich eine Einladung von alten Bekannten mit dem überzeugendem Schmelz des Bedauerns in der Stimme abgesagt, den Nachsatz, man sähe sich ja ohnehin oft genug, hätte ich allerdings besser weglassen sollen. Auch ein geschenktes Oberhemd verstünde ich aus der Hand der Gefährtin Mutter mit durchaus kindlichem Strahlen entgegenzunehmen. Allein die Ergänzung „Ich leg's dann mal zu den anderen“ erfordere tochterseits allerdings jedesmal einen nicht unerheblichen Aufwand an Verstimmungskompensation. Dabei bin ich doch nur bemüht, das klischeehafte Kompliment durch eine zusätzliche spontane Note aufzubrechen. An einer umgezogenen Freundin nach mehreren Monaten bei der Wiedersehensumarmung zu konstatieren, die neue Umgebung bekäme ihr sichtlich gut, finde ich wenig originell. Wie erfrischend wirkt da doch ein fröhlich-zupackendes „He, du hast ja richtig zugenommen!“ Die Gefährtin neigt in solchen Momenten dazu, mich nicht zu kennen. Aber ich wusste noch stets, sie des Wirkungsschattens meiner sensiblen Beobachtungen teilhaftig werden zu lassen. Mit einem Schlenker wie „Du fandest doch auch immer, dass S. ein bisschen hager wirkt, Schatz“ – lenke ich das Interesse der Geschmeichelten allemal selbstlos von mir fort. Die Gefährtin und ich führen ein vergleichsweise zurückgezogenes Leben. Ich fürchte, unsere wenigen Bekannten haben darüberhinaus ein falsches Bild von uns. So habe ich auf Parties schon hinter vorgehaltener Hand flüstern hören, die Gefährtin sei über die Maßen redselig und lasse „den armen Kerl“ nie richtig zu Wort kommen. Ich gestehe, dass ich dieses Vorurteil auf eine Art genieße. Wenn ich einmal den Mund aufmache, ist mir die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Umgebung sicher.
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