Buñuels Bourgeoisie

Privileg und Charakter: Das B-Movie zeigt eine Retrospektive mit Luis Buñuels surreal-satirischem Spätwerk  ■ Von Tobias Nagl

Die einfachste surrealistische Tat bestünde darin, mit einem Revolver wahllos in die Menge zu feuern, formulierte André Breton programmatisch auf dem Höhepunkt der surrealistischen Bewegung. Ein Programm, das in all seinem nihilistischen Pathos des poète maudit Marquis de Sade genauso verpflichtet blieb wie Marx oder Freud und zugleich einen unerbittlichen Glauben an die Kraft des Schocks als letztem Residuum der Avantgarde formulierte.

Dennoch sollte es fast ein halbes Jahrzehnt dauern, bis der Amok laufende Poet seinen Weg auf die Leinwand freigeschossen haben sollte. Waffenhilfe leistete dabei kein Geringerer als Luis Buñuel, der mit dem berühmt-berüchtigten Augen-Schnitt aus Un Chien andalou der surrealistischen Schocktaktik einst ein filmisches Denkmal gesetzt hatte.

Im episodischen Das Gespenst der Freiheit (1974) sehen wir Bretons Protagonisten vom Turm des Montparnasse blindwütig auf Passanten schießen, ziemlich slick und cool als wäre er gerade einem von Alan J. Pakulas opulenten Paranoia-Thrillern entstiegen. Später wird er zum Tode verurteilt – und gibt im Gerichtsaal Autogramme.

Aus dem mexikanischen Exil zurück in Frankreich, begann Buñuel nach langer Schaffenspause eine zweite, äußerst produktive Phase des Filmens, die mit der surrealistischen Kritik noch einmal ernst machen sollte: Die Milchstraße (1969), Der diskrete Charme der Bourgeosie (1972), Das Gespenst der Freiheit (1974), Dieses obskure Objekt der Begierde (1977).

Anders jedoch als sein einstiger Kollaborator Dalí blieb Buñuel der marxistischen Stoßrichtung innerhalb der surrealistischen Programmatik verhaftet. Genau die hatte den Antifaschisten Buñuel nach der Niederlage der spanischen Republik ins Exil gedrängt. Aufstand gegen die Herrschaft der Logik hieß für Buñuel angesichts des klerikal-faschistischen Franco-Regimes nicht nietzscheanisches Schwelgen in der amoralischen Gutsherrenart eines l'art-pour-l'art an den Stränden Kataloniens, sondern hämische Denunziation der bürgerlichen Rationalität und Moral um jeden Preis – und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Den surrealistischen der Traumlogik, aber auch konventionell-narrativen, sofern sie sich nur über einen ätzenden Humor vermitteln und zuspitzen ließen.

Ein groteskeres und hämischeres Bild der bürgerlichen Klasse wurde wahrlich selten entworfen: geschwätzig, korrupt, gefräßig, überheblich, bodenlos frustriert, egoistisch, geil, schamlos und – natürlich! – über allen Maßen dem Schönen zugewandt. Kurz: Ein historisch längst diskreditiertes, lächerliches Pack, das am besten sofort an die nächste Wand gestellt gehört – was Buñuel in seinen späten Filmen übrigens auch gerne und häufig zelebriert.

Gäbe es für den Buñuelschen Bourgeois ein Archetyp, dann wäre es ganz sicher der distinguierte Ausdruck Fernando Reys, dessen Gesichtsbehaarung allein schon sich als obszöne Grauzone zwischen gentleman-likem Savoir Vivre und altmännerhafter Schmierigkeit zur Lektüre gibt. Wenn er dann noch als kokainschmuggelnder Botschafter einer mao-istischen Terroristin an die Brüste greift und in sonorem Bariton brummt „Sie halten mich wohl für einen Reaktionär“ – ja, dann möchte man ihn fast für Gerhard Schröder halten. Mit geradezu zärtlich-zoologischer Faszination nähert sich Buñuel seinen Figuren, stellt sie in ihren Phrasen aus, nicht als wolle er ihnen die Fratze vom Gesicht reißen, sondern vielmehr eine individualisierte Maske geben, die den gestischen Umschlagmoment von Privileg in Charakter festhält.

Eine gewisse Nostalgie haftet dem Wiedersehen von Buñuels Bourgeoisie deshalb schon an. Nicht nur, vielleicht, weil wir in der post-bürgerlichen Neuen Mitte eines zynischen Narzissmus leben, der Tabubruch längst von der Rechten ockupiert wurde, sondern auch, weil die mit den harten Währungen Geld und Distinktionsgewinn zahlende, Buñuelsche Klassenpsychologie längst universalisiert scheint.

Die Milchstraße:Sa, 6. + So, 7. Nov.; Der diskrete Charme der Bourgeosie:Do, 11., Sa, 13. + So, 14. Nov.;Das Gespenst der Freiheit:Do, 18., Sa, 20. + So, 21. Nov.; Dieses obskure Objekt der Begierde:Do, 25., Sa, 27. + So, 28. Nov.; B-Movie, jeweils 20.30 Uhr