Ein Geburtshelfer Westberlins

■  Zehn Jahre November 1989: Mit dem Fall der Mauer wurde auch das Ende des Transits von und nach Westberlin eingeläutet. Die Erinnerung daran fällt den Westberlinern jedoch schwer

Schweinesteak mit Würzfleisch am Rasthof Magdeburger Börde, routinemäßige Bremsvorgänge vor Brücken und der Tritt aufs Gaspedal dahinter, der Ärger, wenn einen neben den DDR-Grenzern auch noch die aus der BRD, wie es damals politisch korrekt hieß, schikanierten. Nicht nur die DDR-Bürger waren bis zum November 1989 mauerbetroffen, sondern auch die Westberliner. Der einzige Weg aus der ummauerten Halbstadt hieß: Transit.

Während sich um den Fall der Mauer und das Ende der DDR die individuellen und professionellen Erinnerungsarbeiter bemühen, spricht vom Transit eigentlich kaum einer mehr. Ganz im Gegensatz zu früher. Bis zum Wegfall der Schlagbäume waren Grenzkontrollen, das Angebot im Intershop und der Zustand der DDR-Autobahnen ein äußerst beliebter Gesprächsstoff unter den Westberlinern.

Unzählige Transitgeschichten reihten sich aneinander, und wer am meisten DDR-Stempel im Pass hatte, war in Westdeutschland ein Held. Immerhin galt die Fahrt von Dreilinden nach Helmstedt dort noch immer als Expedition durch die sozialistische Steppe, so wie der Westberliner Alltag vielen Wessis, wie die Westdeutschen damals im Westberliner Jargon hießen, einer Mutprobe in Sachen Inseldasein gleichkam.

Seltsam nur, dass davon keine Rede mehr ist. Sind sie etwa ausgestorben, die alten Westberliner, ersetzt und ausgetauscht von den geschichtslosen Neuankömmlingen der „Generation Berlin“? Oder taugen der misstrauische Blick des Grenzers in den behelfsmäßigen Westberliner Personalausweis, die Aufforderung, das linke Ohr freizumachen, der preußisch knappe Gruß „Angenehme Weiterreise“ einfach nicht zum Erinnern, weil man sich nicht gerne die eigene Hilflosigkeit vor Augen führt? Was war das eigentlich, Transit Westberlin?

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius und der Historiker Peter Joachim Lapp haben versucht, Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu finden. In ihrem soeben im Christoph Links Verlag erschienenen Bild-Text-Band „Transit Westberlin“ haben sie sich auf die Suche nach den „Erlebnissen im Zwischenraum“ begeben, die die Westberliner und deren Besucher seit dem Bau der Mauer begleiteten.

Doch während es Lapp gelingt, die Zeit vor und nach dem Transitabkommen von 1971 anhand zahlreicher Dokumente in Erinnerung zu rufen und die Praxis der Grenzbfertigungen in den Zusammenhang der deutsch-deutschen Geschichte zu stellen, bleibt Delius' einleitender Essay seltsam uninspiriert.

Natürlich zeigte sich die DDR den Transitreisenden nicht von ihrer besten Seite. Und auch Delius' Schlussgedanke, dass das westliche Freiheitsgefühl ohne die Transiterfahrungen nicht denkbar gewesen wäre, ist – rückblickend betrachtet – sicher nicht falsch. Aber den Transit von und nach Berlin auf die bloßen Schikanen der DDR-Grenzer zu reduzieren, ihn ins Horrorkabinett des sozialistischen Grenzregimes zu pressen, muss zwangsläufig daneben gehen.

Transit, das war natürlich auch ein ganzes Stück weit deutsch-deutscher Pop, und es war ein amüsanter Lehrpfad für die Absonderlichkeiten des real existierenden Sozialismus ebenso wie für die Teilung der Bundesrepublik in ein kapitalistisches Westdeutschland und ein merkürdig aus dem Lauf der Zeit genommenes politisches Gebilde, das im Abkürzungsfimmel der DDR-Behörden schlicht WB hieß.

Delius, der die Transitstrecken seit dem Frühjahr 1993 regelmäßig bereist, hat allerdings mit einer These Recht. Nämlich die, dass sich die Westberliner Gesellschaft in der Schlange vor der Passabfertigung erst konstituierte. „Vor den Grenzposten waren alle gleich, die Opel-Fahrer und die Mercedes-Menschen, die bescheidenen VW-Bürger und die Studenten in ihren 2CVs oder R4s.“ Im Stau an der Grenze, so Delius, lernten sie sich in aller Ruhe beobachten, „in den Blicken zur Nachbarspur, in die anderen Autos, die fremden Geschichter“.

Wenn der Transit tatsächlich einer der Geburtshelfer der Westberliner Inselmentalität war, ist es eigentlich umso erstaunlicher, dass nicht längst schon Westberliner Autoren vom Schlage eines Thomas Brussig über das längere Ende der Sonnenallee Bericht erstatten. Der Transit jedenfalls böte Stoff bis zum Abwinken.

Aber vielleicht sind die Erinnerungen von vermeintlichen Siegern ja andere als die von vermeintlichen Verlierern. Auch wenn die Westberliner Welt heute beinahe genauso verschwunden ist wie die im Ostteil. Mit einer Ausnahme: Im Stau steht man nun nicht in Dreilinden, sondern vor Magdeburg. Uwe Rada

Friedrich Christian Delius/Peter Joachim Lapp: „Transit Westberlin“. 192 Seiten, 68 DM