■ Besuch in Peking: Der Bundeskanzler versucht, China in die westliche Politik einzubinden – auch gegen den Willen der USA
: Schröders Weitsicht

... aber die Ernsthaftigkeit des chinesischen Aufholeifers ist unzweifelhaft

Does China Matter?“ steht derzeit in roten Lettern auf der Titelseite des einflussreichen New Yorker Magazins Foreign Affairs. Gerhard Schröder hat die scheinbar einfache Frage, ob China für den Westen von Bedeutung sei, gestern in Peking mit einem klaren „Ja“ beantwortet. Weltwirtschaftskoordination ohne China sei unmöglich, sagte der Kanzler, und Deutschland werde von nun an immer auf diese Tatsache hinweisen. Das war eine deutliche Warnung an die amerikanischen Gegner seines Vorschlags, China an die G-8-Gruppe der reichsten Industrienationen plus Russland heranzuführen. Und der Vorwurf des US-Botschafters in Deutschland, Berlin treffe außenpolitisch nicht den richtigen Ton, dürfte genau die Form des Auftritts gemeint haben, die Schröder jetzt wählte.

Ist China also wichtig oder nicht? Der Autor von Foreign Affairs, Gerald Segal, führt eine Menge korrekten Zahlenmaterials ins Feld, um China für bedeutungslos zu erklären. Tatsächlich ist die Volksrepublik bisher keine Wirtschaftsgroßmacht. Ginge man nach dem Bruttosozialprodukt, könnte ein Land wie Spanien genauso Anspruch auf einen Platz in der G-8-Gruppe erheben. Speziell aus deutscher Sicht erscheint China nicht als Riese: An deutschen Exporten nimmt die große Volksrepublik nicht mehr als das kleine Belgien auf. Ihr Markt für westliche Qualitätsprodukte ist nicht größer als der der Beneluxländer.

Segal hat Recht, wenn er behauptet, dass China immer noch ein relativ kleiner Markt sei, der für die Welt außerhalb Asiens wenig Bedeutung habe. Genauso richtig ist Segals kritische Bestandsaufnahme der chinesischen Wirtschaftslage: Es ist unstrittig, dass die Krise der maoistischen Staatsbetriebe, von denen knapp die Hälfte Verluste macht, gewaltige soziale Schismen auslöst.

Über 20 Millionen Angestellte verloren nach vermutlich noch verharmlosenden offiziellen Angaben in den letzten zwei Jahren ihren Arbeitsplatz. 80 Millionen befinden sich nach Regierungsangaben als Wanderarbeiter auf der Straße. So scheint man vor allem der Vernunft der betroffenen Massen zu verdanken, die die Sinnlosigkeit der Planwirtschaft erkannt haben, dass es bisher nicht zu wesentlichen sozialen Protesten kommt. Segal hat noch in einem anderen Punkt Recht: China ist eine zweitklassige Militärmacht, die nach seinen Angaben nur 4,5 Prozent der weltweiten Verteidigungsausgaben tätigt. Aus der Analyse wirtschaftlicher und militärischer Schwäche leitet Segal letztlich seine Schlussfolgerung ab: Der Westen solle China nicht wie eine Großmacht, „sondern mehr wie Brasilien behandeln“; er soll keine Angst haben, China seine militärische Überlegenheit in Hinblick auf eine Verteidigung Taiwans zu demonstrieren, und sich nicht um Chinas Platz im Weltsicherheitsrat scheren, den das Land nur seiner Stellung vor dem Zweiten Weltkrieg verdanke.

Segal warnt den Westen vor dem „Panda-Komplex“ – einer vermeintlichen Tendenz westlicher Politiker, sich in China wie die Bären zurückzulehnen und nichts zu tun, was die Chinesen beleidigen könnte. Die Lektionen des Segalschen Essays sind abenteuerlich, doch sie verdienen schon deshalb Gehör, weil sie derzeit in der politischen Klasse Amerikas offenes Gehör finden.

Von einem „Panda-Komplex“ kann in den Vereinigten Staaten derzeit wahrlich keine Rede sein. Am deutlichsten zeigen das die Reaktionen nach dem Bombenattentat der Nato auf die chinesische Botschaft in Belgrad während des Kosovo-Krieges. Bis heute sind die Entschuldigen dafür in den USA halbherzig geblieben. Bis heute weigert sich Washington, die Verantwortlichen für den Unfall zu benennen, geschweige denn sie zu bestrafen. Nicht einmal in der Demokratischen Partei scheint es heute noch Friedenspolitiker zu geben, die internationalen Anstand zeigen, auch wenn es zu Hause unpopulär ist.

Die ungelöste Botschaftsaffäre illuminiert den von Segal strategisch begründeten Unwillen Amerikas gegenüber China: Man hält es nicht für nötig, sich gegenüber dieser vermeintlich zweitrangigen Macht zu erklären, genauso wenig wie man es für nötig befand, China vor dem Kosovo-Krieg im Weltsicherheitsrat zu konsultieren. Viel lieber hantiert man mit Spionage- und Menschenrechtsvorwürfen, um Peking international zu isolieren. Hinzu kommt eine Verweigerungshaltung gegenüber multilateralen Abkommen: Washington blockiert die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation und sieht in China einen Faktor, der die Ablehnung des Atomtestsperrvertrags rechtfertigt.

Diese Haltung verdient nicht nur den chinesischen Vorwurf des Hegemonismus, den Bundeskanzler Schröder auf seine Weise bestätigte, als er am Mittwoch in Shanghai von der „ungeheuerlichen Macht“ Amerikas sprach. Sie ist vor allem zutiefst unsozial und perspektivlos. Segal vergisst einen zwar nicht ökonomisch oder militärisch, aber politisch und moralisch entscheidenden Faktor: Es ist der Faktor Mensch, aus dem sich die unermessliche Bedeutung Chinas ableitet.

Das meint gar nicht nur den Tatbestand, dass jeder fünfte Weltbürger Chinese ist. Obwohl hieran die Dimension deutlich wird, in der eine westliche Zuwendung gegenüber China zur Lösung des Nord-Süd-Konflikts beitragen kann. Vor allem aber geht es um Anspruch und Ehrgeiz der Chinesen: Sie waren über Jahrtausende bis zu Beginn der 19. Jahrhunderts die größte Wirtschaftsmacht der Welt, sie glauben deshalb ganz selbstverständlich an Chinas unabweisliche Großmachtrolle und scheinen darüber hinaus heute gewillt und in der Lage, alles dafür zu tun, dass diese in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wieder stärker zum Tragen kommt.

Unklar ist, wie lange China noch unter kommunistischer Fahne segeln wird ...

Man kann zwar darüber rätseln, wie lange die Chinesen noch unter der kommunistischen Fahne ihre Ambitionen verfolgen werden, aber es gibt auf lange Sicht keinen Zweifel daran, wie ernst es die Chinesen mit ihrem Aufholeifer meinen. Westliche Isolierungspolitik gepaart mit Hochmut gegenüber der ersten aufstrebenden asiatischen Großmacht haben in der ersten Jahrhunderthälfte in den Weltkrieg geführt. Der Zweite Weltkrieg begann bekanntlich mit dem Einmarsch japanischer Truppen in China 1937. Japan wurde von den Alliierten damals maßlos unterschätzt.

Diesen Fehler weigert sich der deutsche Bundeskanzler heute ein zweites Mal zu begehen: Er versucht China in einer Entwicklungsphase in die westliche Politik einzubinden, in der Japan seinerzeit vom Westen verstoßen wurde. Und er nimmt es dabei mit einem Amerika auf, das die eigenen Ängste vor China mit Brasilienvergleichen verdrängt. Man hätte nicht gedacht, dass die Wahlniederlagen Schröder so schnell vom Kurzzeitdenken kurieren.

Georg Blume