1989: Endlich im freien Westen!

■ Wir erinnern uns: Marion K. – ein deutsch-deutsches Schicksal

Fast vier Jahrzehnte hatte Marion Kusche (38) in den Kerkern der DDR-Staatssicherheit zugebracht. Jetzt hat sie es geschafft: Endlich ist sie im freien Westen. Stolz zeigt sie ihre kleine, saubere Zelle in Stammheim.

„Es war eine harte Zeit“, sagt sie, doch sie blickt ohne Wehmut auf die langen Leidensjahre zurück. Die unmenschliche Haft im Osten unseres halbierten Vaterlandes hat Spuren hinterlassen. Marion trägt eine Dauerwelle, erste Falten zeigen sich im Gesicht, und in ihren Zähnen hat sie Plomben aus dem gefährlichen Quecksilberamalgam.

„Wenn ich mal aufmuckte, wurde kurzer Prozess gemacht“, erzählt sie vom Gefängnisalltag. „Man zog mich an den Brusthaaren, echt!“ erinnert sich die viel geprüfte Frau mit dem Mundgeruch und errötet: „Manchmal kamen die Schergen nachts, um mir Gewalt anzutun, und wenn ich dann auf dem Höhepunkt aufwachte, war's mal wieder keiner gewesen.“ Natürlich wurde niemand jemals zur Rechenschaft gezogen. Welch ein Unterschied zur Bundesrepublik, wo Gewalt allenfalls gegen Kinder und Ehefrauen gebilligt wird!

Dem Gefängnispersonal macht Marion keine Vorwürfe. „Das tat nur seine Pflicht und führte Befehle aus“, weiß sie. Doch von den siebzehn Millionen Mitgefangenen setzt sie sich ab: „Das waren alles nur Otto Normalverbrecher. Ich aber war eine Politische!“ Schon mit drei Jahren wurde sie in einen staatseigenen Kinderhort eingewiesen, mit sechs wurde sie zwangseingeschult, mit sechzehn, gleich nach Schulabschluss, presste man das Mädchen in eine Lehrstelle. Kein Wunder, dass sie drüben eine unglückliche Kindheit verlebte und nicht größer als 1,62 Meter wurde.

Doch all das liegt nun für Marion weit zurück. Heute, nach ihrer Übersiedlung, sitzt sie in Stammheim, in einer hellen, freundlichen Zelle, völlig ungestört auch von allen anderen Inhaftierten.

Sie ist aufgeblüht. Aus der kurz gehaltenen DDR-Bürgerin ist unübersehbar eine Persönlichkeit geworden, die nicht mehr die abgelegten Klamotten von Oma auftragen muss. Haarnetz, Stützstrümpfe und aus Kartoffelsäcken genähte Unterwäsche gehören der Vergangenheit an. Jetzt kann sich Marion endlich mit den schönen Sachen aus der Brockensammlung kleiden. Allein mit der Verköstigung ist sie nicht restlos zufrieden: denn eigentlich wollte sie hier im Westen Vegetarierin werden und sich nur mehr von Südfrüchten ernähren.

So wachsen denn auch Marions Bäume nicht in den Himmel. Naja, Bäume sind Schäume.

Peter Köhler