„Sollen wir jetzt feiern oder nicht?“

■ Drei junge Ostdeutsche, die in Hamburg leben, sprechen über zehn Jahre nach dem Mauerfall

Anne: Eigentlich haben wir heute Grund zum Feiern, oder?

Heiko: Klar, diesen Tag sollte fast jeder Ex-DDRler feiern, find ich. Macht aber kaum einer, die sind alle viel zu sehr mit sich selber beschäftigt oder unzufrieden.

Karo: Es kommt mir auch ziemlich unwirklich vor, dass es erst zehn Jahre her ist. Ich rede heutzutage selten über das Thema, weil es im Alltag wichtigere Probleme gibt. Außerdem nervt das ewige Ost-West-Hickhack.

Anne: Klar, aber was willst du dagegen machen?

Karo: Jedenfalls nicht den Bekehrer spielen. Ich bin nach der Wende drei Jahre zwischen Hamburg und Dresden gependelt und, je nachdem wo ich gerade war, immer auf die gleichen Vorurteile gestoßen. Irgendwann habe ich den Leuten nur noch gesagt: „Fahrt selber in den Osten oder Westen und macht euch ein eigenes Bild.“

Heiko: Ich bin über Polen abgehauen, als die Mauer noch stand, damals gab es im Westen wenig Vorurteile. Ich hatte einen richtigen Exotenstatus und habe meinen ers-ten Job tatsächlich nur bekommen, weil ich aus dem Osten war. Der Chef hat mich morgens mit dem Auto abgeholt, und wildfremde Leute haben mir Sachen für meine erste Wohnung geschenkt.

Anne: Bei mir war es ähnlich. Als ich 1988 mit meinen Eltern aus der DDR ausreisen durfte, sind wir im Westen noch mit offenen Armen empfangen worden.

Karo: Auf diese übertriebene Herzlichkeit stand ich damals überhaupt nicht. Ich weiß noch, wie ich kurz nach dem Mauerfall mit Freunden nach Westberlin gefahren bin: Wir haben da geparkt und als wir zuückkamen, war unser Wartburg völlig mit Blumensträußen zugedeckt. Das war mir irgendwie zuviel. Richtig peinlich wurde es dann, als Mercedes Benz auf dem Ku'damm Plastiktüten verteilt hat. Da waren zwei Apfelsinen und billige Schlüsselanhänger drin, aber die Leute haben wie blöd Schlange gestanden und ihre Kinder teilweise dreimal hingeschickt.

Anne: Mit der Zuneigung war es dann ja ziemlich schnell vorbei, als sich alle DDR-Bürger ihren Hunderter abholen durften, und die Aldi-Regale gestürmt haben. Damals habe ich mich echt für meine gierigen Landsleute geschämt.

Heiko: Ich habe keinem Menschen mehr erzählt, woher ich komme und am Ende selber Sprüche über Ossis gemacht. Später lernte ich einige kennen, die wegen besserer Jobs und Bezahlung in den Wes-ten gekommen sind. Die haben nur geschuftet und gespart und sind bei jeder Gelegenheit auf Heimaturlaub verschwunden.

Karo: Die Mehrzahl hat eben keinen Bock, sich auf eine fremde Umwelt einzulassen. Für mich war Hamburg am Anfang auch Ausland. Die Leute sprachen eine komplett andere Sprache, und ich hatte das Gefühl, ich muss erst lernen, wie ich mich richtig ausdrücke. Zudem kriegst du hier als Ostdeutscher dieselben Fragen gestellt wie jemand aus Chile oder Afrika: „Ach, da kommst du her – und warum lebst du hier?“

Anne: Moment mal, du redest ohne sächsischen Akzent und musst deine Herkunft niemandem auf die Nase binden. Das ist ein entscheidender Vorteil. Bei mir hats zum Beispiel noch kein Wessi von alleine rausgefunden.

Heiko: Ich habe auch Freundschaften, wo erst nach Jahren zufällig das Gespräch darauf gekommen ist. Die Leute sagen dann meistens: „Echt, das hätten wir nie vermutet.“ Mir hat allerdings noch keiner hinterher die Freundschaft gekündigt.Karo: Genauso läuft es aber: Ossis sind erstmal verdächtig – es sei denn, man kennt persönlich welche, die in Ordnung sind. Ich habe zum Beispiel gemerkt, dass im Job genau drauf geachtet wird, wie ich meine Arbeit mache.

Heiko: Allgemein haben die Leute im Osten aber ein viel größeres Problem mit dem Westen als ungekehrt, das habe ich bei meinen Eltern festgestellt. Wir haben eine Zeitlang total aneinander vorbeigeredet, bis sie mir gestanden haben, dass ich in ihren Augen nach und nach ein Wessi geworden bin, also eigentlich ein Feindbild. Damit kamen sie zuerst überhaupt nicht klar und sie sind noch heute der Meinung, ich hätte nach der Wende wieder zurückkommen sollen.

Anne: Wegen derselben Haltung habe ich zu vielen meiner alten Freunde keinen Kontakt mehr. Dabei ist es doch logisch, dass man Spanisch lernt, wenn man länger in Spanien lebt. Warum sollte es in Westdeutschland anders sein?

Karo: Ich kann verstehen, dass sich die Leute im Osten gelinkt fühlen. Ungekehrt wäre es auch so, wäre der Westen einfach dem Osten angeschlossen worden.

Heiko: Ich kenne einen, der fuhr nach der Wende regelmäßig mit seinem alten Ford in den Osten, um denen da zu zeigen, was für einen tollen Schlitten er hat. Irgendwann hat ihn dann der erste Benz mit Ostkennzeichen überholt. Seitdem steht er unter Schock und bereut es bitter, dass er früher Pakete rübergeschickt hat.

Anne: Geil, Westpakete – das waren echte Glücksmomente. Das bedeutet nun aber nicht, dass ich der DDR in irgendeiner Form nachtrauere, wie es andere tun.

Karo: Die Leute vergessen, dass in der DDR vieles auch ganz schön scheiße war. Wenn ich heutzutage Freunden von lächerlichen Erlebnissen wie Fahnenappell auf dem Schulhof erzähle, gucken die mich erstaunt an. In solchen Momenten wird mir bewusst, dass ich die DDR tatsächlich miterlebt und mitgemacht habe. Ich merke dann, wie schnell so etwas weit weg ist.

Heiko: Eine entscheidende Rolle spielt dabei aber das Alter. Ich meine, wir haben Schwein gehabt: Bis Zwanzig konnte man in der DDR trotz Fahnenapell seinen Spass haben. Richtig muffig wurde das Leben erst danach – frag mal Leute, die zehn Jahre älter sind.

Karo: Klar haben die jetzt viel größere Probleme, sich umzugewöhnen. Erst recht, wenn sie ihren Job verloren haben. Wenn ich dagegen meinen kleinen Bruder sehe, der sich ruckzuck Computer und Playstation zugelegt hat: Der unterscheidet sich kaum noch noch von Gleichaltrigen im Westen.

Anne: Also sollen wir jetzt feiern oder nicht?