Klar, keiner liebt Mauern“

■  Ein Fernsehnachmittag mit Sahra Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform der PDS, dem „Herz-Jesu-Sozialisten“ und Bundesminister a. D. Norbert Blüm (CDU) und Bildern des Mauerfalls

Wie reagieren eine bekennende Sozialistin, aufgewachsen in der DDR, und ein liberaler Konservativer aus Westdeutschland, wenn sie sich zehn Jahre zurückversetzen und gemeinsam die Fernsehbilder der Nacht des Mauerfalls anschauen? Wie werten sie das Gesehene? Finden sie eine gemeinsame Sprache? Sahra Wagenknecht und Norbert Blüm waren zu diesem Experiment in den Redaktionsräumen der taz bereit. Das Videoband, ein Live-Mitschnitt einer N3-Sendung vom 9. November 1989 gegen 23 Uhr, lief noch keine Minute, da war schon die erste Diskussion entbrannt. Doch auch wenn ab und zu die Gesichter glühten, blieb der Ton des Gesprächs verbindlich. Im Streit gingen beide nicht auseinander.

Als Einstieg zeigt die N3-Sendung einen Mitschnitt aus einer DDR-Nachrichtensendung. Nach einer Minute sagt der Sprecher der „Aktuellen Kamera“: „Alle Reisen müssen beantragt werden.“

Norbert Blüm: Also das 1989: Reisen beantragen! Du liebe Leut'! In welchem Kinderheim ...!

Sahra Wagenknecht: Kinderheim wäre das heute. Heute kann man ausreisen, aber einreisen kann man nicht. Wie viele wurden via Frankfurt direkt in türkische Folterkeller zurückgeschickt?!

Blüm: Am 9. November habe ich an meinen jetzigen Schwiegersohn gedacht: Der ist im September 1989 aus der DDR abgehauen. Da hat mir die Mutter später erzählt, dass sie dies Geräusch, als die Tür ins Gartenschloss fiel, ihr Leben lang nicht vergessen wird. Da sie nicht wusste, ob sie ihren Sohn jemals wiedersieht, ob er überhaupt lebend über die Grenze kommt. Man kann froh sein, dass dies alles an diesem Abend wie ein böser Traum weggewischt war.

Wagenknecht: Der böse Traum geht für andere weiter. Ich finde es heuchlerisch, wenn Politiker Freudentränen über den „Mauerfall“ vergießen, dabei aber seit Jahren daran arbeiten, EU-Europa festungsartig abzuschotten – also dicke Mauern zu errichten, wo keiner mehr reinkommen soll, damit die Armut, die Europa in den Schwellenländern mit verursacht, fern bleibt. Klar, keiner liebt Mauern. Aber dann soll man bitte schön heute auch keine bauen.

Blüm: Aber die härtesten Mauern hat der Sozialismus errichtet, vor allem hier in Deutschland: eine Mauer, wo die Leute erschossen wurden, wenn sie rüber wollten. Immerhin 943 Tote ...

Wagenknecht: Ich will das eine nicht gegen das andere aufwiegen: Aber an der Südgrenze der USA wird ebenso scharf geschossen. Hat die Bundesregierung je dagegen protestiert? An den EU-Außengrenzen sind in den letzten Jahren 800 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, sie illegal zu überqueren.

Blüm: Mir ist keine Grenze bekannt, wie ich sie ja gesehen habe: Todesstreifen, Bluthunde. Das war ein barbarisches System, und das war an dem Abend zu Ende.

Wagenknecht: Na ja, das System war an dem Abend nicht zu Ende, es war nur eingeleitet. Aber das wollten die Leute, die sich über die Reisefreiheit gefreut haben, mit Sicherheit nicht. Die wollten reisen und mehr politische Mitsprache. Die haben nicht darüber gejubelt, dass der westdeutsche Kapitalismus sie einverleibt.

Blüm: Aber es beginnt mit den elementaren Freiheitsrechten des Menschen. Und das elementare Freiheitsrecht des Menschen ist: zu sagen, was ich denke.

Wagenknecht: Einverstanden. Aber wer um seinen Arbeitsplatz bangt, wird sich auch überlegen, ob und wo er seine Meinung sagt. Man muss zwei Dinge unterscheiden: die negativen Seiten der DDR, die viele nervten und berechtigt kritisiert werden. Von dieser Negativseite ist uns mit dem 9. November fast nichts entgangen, das lebt alles fröhlich fort. Was wir verloren haben, ist die Seite, durch die sich die DDR bereits positiv vom real existierenden Kapitalismus unterschied. Die heutige Freiheit ist ja sehr relativ. Es ist in erster Linie die Freiheit für eine ganz kleine Schicht von Kapitaleignern, dem Rest der Gesellschaft immer unumschränkter ihre Rendite-Interessen zu diktieren.

Blüm: Nennen Sie mir mal einen Sozialismus auf der Welt, der richtig funktioniert hat.

Wagenknecht: Was heißt richtig? Fakt ist, dass in der DDR erheblich größere soziale Sicherheiten existierten, dass Kinder kein Armutsrisiko waren, Krankheit kein Luxus, und dass der Bildungsweg des Einzelnen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhing.

Blüm: Aber von der Gesinnung war es schon abhängig. Wenn du einer strammen SED-Familie angehörtest, hattest du mehr Chancen, als wenn du in einer kirchlichen Organisation ...

Wagenknecht: Das ist doch ein Klischee. Das stimmt doch so überhaupt nicht.

Blüm: Dann stimmen meine Erfahrungen aus meinen familiären Beziehungen nicht – die können Sie mir aber nicht ausreden. Wissen Sie, warum der Sozialismus unter allen Bedingungen – er hat es ja unter allen versucht – nicht funktionieren kann: Der ist auf einen Menschen angewiesen, den es nicht gibt. Das ist die Macht der guten Menschen. Diese Utopie ...

Wagenknecht: Das sehe ich nicht so.

Blüm: Diese Utopie gibt es deshalb nicht, und da schließe ich von mir auf andere: Ich bin nicht nur gut. Wir brauchen ein System, das Macht verteilt. Wo kein Mächtiger so mächtig ist, dass er nicht Gegenmacht fürchten muss.

Wagenknecht: Und wo haben heute ein Herr Schrempp oder ein Herr Breuer Gegenmacht?

Blüm: Auch ein Herr Schrempp kann seinen Posten verlieren.

Wagenknecht: Gut, durch die Großaktionäre, die hinter ihm stehen, aber deshalb ist er ja der hörige Agent ihrer Renditewünsche.

Blüm: Also, jedenfalls abwählen konnten Sie in der DDR keine Regierung.

Wagenknecht: Das Problem ist aber, dass die, die heute gewählt und abgewählt werden, die eigentliche Macht gar nicht haben.

Blüm: Aber Sie bemühen sich doch auch um Stimmen, im Vertrauen, dass die Bürger sie Ihnen geben. Also ist das System doch nicht obrigkeitsorientiert ...

Wagenknecht: Also gut, ob die PDS, wenn sie mal die Mehrheit hat, dann auch wirklich die Veränderungen durchsetzen kann, das werden wir sehen.

Blüm: Aber Sie hätten doch hoffentlich nicht gern die Mauer wieder?

Wagenknecht: Nein, ich hätte lieber bundesweit eine sozialistische Wirtschaftsordnung. Arbeitslosigkeit, wachsende Armut gibt es doch in Ost wie West. Die Mauer ist garantiert keine Perspektive. Aber zehn Jahre sozialfeindliche Politik haben es geschafft, dass viele sagen: Lieber wieder die Mauer als das, was jetzt ist.

Blüm: Das finde ich absolut abnorm, so ein Ding wieder haben zu wollen, an dem Menschen verbluten. Die DDR war so bankrott, die wäre zusammengekracht, mit oder ohne Mauerfall. Wenn einer sagt, es wäre nichts passiert, dann sieht er nicht richtig: Viele Städte sind neu aufgeblüht, die kurz vor dem Zusammenbruch waren.

Wagenknecht: Neu aufgeblüht mit 30 Prozent registrierter Arbeitslosigkeit.

Blüm: Ich denke an Quedlinburg, eine wunderschöne Stadt, die wäre vermodert.

Wagenknecht: Natürlich hat die DDR zu viel Geld nur in den Neuwohnungsbau und fast nichts in die Altstadtsanierung gesteckt. Aber jetzt wurde viel luxussaniert: Wunderhübsch, aber die ehemaligen DDR-Bürger können da nicht mehr wohnen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können.

Blüm: Die Umweltverschmutzung war katastrophal.

Wagenknecht: Heute ist die Umwelt sauberer, weil fast gar keine Industrie mehr existiert. Das kann nicht die Lösung sein.

Blüm: Haben Sie mal mit Arbeitern in Wismut gesprochen, wie die behandelt wurden? Wie die in den Krebs getrieben wurden, als wären sie ...

Wagenknecht: Aber das ist ja international das Problem von Uranabbau.

Blüm: Ich erinnere mich an Besuche in Weimar, da hat man nicht atmen können.

Wagenknecht: Also in Weimar bin ich nun oft genug gewesen und habe immer ganz gut geatmet.

Blüm: Aber gestunken hat's.

Wagenknecht: Es stinkt heute oft erheblich mehr, weil mehr Autos fahren.

Blüm: Die Arbeitsverhältnisse in Bitterfeld! Da gab es Rohre, da ist das Gift rausgelaufen.

Wagenknecht: Die Umweltverschmutzung war wahrlich nicht alleinige Spezialität der DDR. Und zumindest den mörderischen Leistungsdruck gab es nicht.

(Bilder von Momper in einer Diskussionsrunde)

Blüm: Das ist der Momper, der gesagt hat, es geht nur ums Wiedersehen, nicht um die Wiedervereinigung – na ja.

Wagenknecht: Den Leuten, die über die Grenzen gingen, ging es einfach darum, zu reisen, sich das anzuschauen, denen ging es nicht um eine Wiedervereinigung.

Blüm: Wer gegen die Wiedervereinigung war, hätte ja PDS wählen können. Gott sei dank hat die PDS nicht die Mehrheit. Bei einer Volksabstimmung hätte es damals und heute auch gelangt für die Wiedervereinigung, aber dicke.

Wagenknecht: Und warum haben Sie dann keine gemacht?

Blüm: Weil unser Grundgesetz das nicht vorsieht.

Wagenknecht: Entweder man ist für die Demokratie oder nicht.

Blüm: Ja, ich bin für eine Demokratie, die kein Populismus ist. Der Hitler ist auch demokratisch gewählt worden, allerdings unter Preisgabe der Menschenrechte.

Wagenknecht: Von einem Drittel der Leute. Ermächtigt wurde er auf Intervention der Industrie.

Blüm: Was die Nazi-Herrschaft anbelangt: Das hat die DDR nie verarbeitet. Die hat die seltsame These entwickelt, als sei diese Diktatur etwas Westdeutsches.

Wagenknecht: Jedenfalls hatten ehemalige Nazi-Größen bei uns in Politik, Justiz und Bildungswesen keine Aufstiegschancen – im Gegensatz zu einem Globke und Kiesinger. Die CDU hat ja ganz ungehemmt Mitglieder aus dem braunen Sumpf rekrutiert.

Blüm: Das ist eine Beleidigung von Adenauer, Gerstenmeier, Kaiser und anderen. Die CDU ist von Leuten gegründet und geprägt worden, die unter Hitler gelitten haben. Außerdem: Wiedergutmachung – das hat euch nie interessiert.

Wagenknecht: Die DDR hat Milliarden an Reparationen an die Sowjetunion gezahlt – im Unterschied zur Bundesrepublik. Die DDR hat alte Nazis und Grundbesitzer enteignet. In der Bundesrepublik kämpfen bis heute ehemalige Zwangsarbeiter um auch nur minimale Entschädigungen.

Blüm: Ich spreche unsere Gesellschaft nicht heilig, auch nicht unsere Ordnung. Ich bin kein Anhänger des Kapitalismus. Ich halte einen nahezu gleichen Abstand zum Kapitalismus wie zum Sozialismus.

Wagenknecht: Aber Sie haben den Kapitalismus doch 16 Jahre verwaltet.

Blüm: Da haben Sie eine andere Vorstellung vom Kapitalismus als ich. Die soziale Marktwirtschaft hat einen Sozialstaat, den der Kapitalismus nicht hat.

Wagenknecht: Aber man kann doch nicht mehr von Sozialstaat reden bei dem, was hier los ist.

Blüm: Dem Sozialhilfe-Empfänger in Dortmund-Nord geht es immer noch besser als dem Arbeiter in sozialistischen Gesellschaften. Freiheitsfragen werden von Ihnen immer zur Seite geschoben. Auch in Wohlstandsfragen war die soziale Marktwirtschaft den sozialistischen Staaten überlegen.

Wagenknecht: Sie haben offenbar keine Vorstellung, wie ein Sozialhilfeempfänger heute leben muss. Und wenn die grundlegenden Existenzbedingungen nicht gewährleistet sind, dann hat man größtenteils auch keine Chancen, Freiheitsrechte wahrzunehmen.

Blüm: Sicherheit ohne Freiheit, das ist die Sicherheit eines Gefängnisses.

Wagenknecht: Dafür plädiert ja auch keiner. Ich halte diese ganze Alternative für fatal.

(Diepgen sagt: Das sei ein Tag, der ihn bewege.)

Wagenknecht: Diese Heuchelei! Unerträglich.

Blüm: Ich habe mich echt gefreut, Sie werden mir die Freude auch nachträglich nicht ausreden können.

Wagenknecht: In der Deutschen Bank werden auch die Sektkorken geknallt haben.

Blüm: Ach, Sie sind irgendwie Deutsche-Bank-fixiert. Lassen Sie doch mal ganz normale Gefühle zu. Ich habe mich richtig gefreut. Das hat mit der Deutschen Bank nichts zu tun.

Wagenknecht: Viele haben sich gefreut. Aber wirklich profitiert haben von der Entwicklung nur wenige. Gucken Sie sich die Gewinne westdeutscher Konzerne an: Einen solchen Boom hat es vorher nie gegeben. Oder den Anstieg der Aktienkurse seit 1990. Ich fand es auch sehr ärgerlich, dass die DDR so wenig effektiv produziert hat, aber deshalb ist der Kapitalismus noch lange nicht ...

Blüm: Ich bin kein Kapitalist. Tun Sie mich nicht dauernd in diese Ecke. Ich bin sozialer Marktwirtschaftler. Wir benötigen neue Spielregeln für eine globale Wirtschaft. Der alte Ludwig Erhard hat immer gesagt, dass die Marktwirtschaft einen Ordnungsrahmen braucht: Wer schafft jetzt die Spielregeln für eine Weltwirtschaft, die national nicht mehr geordnet werden kann? Da habe ich auch mehr Fragen als Antworten.

Moderation: Philipp Gessler