„Für uns hat sich nichts verändert“

■  Negativer Schicksalstag wird zum Jubeldatum: Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt/Main, Salomon Korn, sieht den erhöhten Aufmerksamkeitswert des 9. November auch als Chance für das Erinnern an die Pogromnacht von 1938

taz: Woran denken Sie zuerst, wenn Sie das Datum 9. November hören?

Salomon Korn: Ich denke gleichzeitig an den 9. November 1938 und den 9. November 1989. Das ist ein deutsches Datum und gerade in seiner Ambivalenz von großer Bedeutung.

Was glauben Sie, woran die meisten Deutschen angesichts dieses Datums denken?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber sicherlich wird sich der Schwerpunkt des Erinnerns in den nächsten Jahren vom negativ verstandenen Schicksalstag der Deutschen, an dem an die niedergeschlagene Revolution von 1918, den Hitlerputsch von 1923 und die Pogromnacht von 1938 erinnert wurde, hin zu einem positiven Gedenktag verschieben. Die Erinnerung an den 9. November 1989 wird die anderen Tage in der Zukunft in den Hintergrund treten lassen. Sie wird sie aber nicht ganz verdrängen. Es besteht sogar die Chance, dass mit diesem freudigen nationalen Ereignis mit diesem enormen Aufmerkamkeitswert die anderen Ereignisse verknüpft bleiben werden, und das ist das Positive daran.

Haben Sie das Gefühl, dass sich die Deutschen auch ganz gerne der Last des negativen Gedenkens entledigt haben?

Es ist ein ganz menschlicher Vorgang, dass man sich der schönen Dinge lieber erinnert als der negativen, und es wird im Laufe der Zeit, wenn die Historisierung fortschreitet, zu dieser Verschiebung kommen. Dennoch glaube ich, dass die Verknüpfung dieser Daten nie aus der Welt zu schaffen sein wird. Der 9. November wird ein Schicksalstag der Deutschen bleiben im positiven wie im negativen Sinne.

Sehen Sie die Gefahr, dass die Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. November 1938 zum bloßen Ritual verkommt, ein nur lästiges Nebenereignis der Geschichte?

Diese Gefahr besteht bei Ritualen immer. Aber Rituale sind notwendig. Es kommt immer darauf an, wie man sie mit Inhalten füllt. Jede Demokratie braucht Rituale, um sich ihrer selbst immer wieder zu vergewissern, weil wir nicht mehr im Feudalstaat leben, der sich durch Prunk, Pracht und Aufmärsche definieren kann. Gedenktage sind in einer Demokratie geradezu konstitutiv. Sicher wird die Erinnerung verblassen. In der Historisierung läuft es immer so, dass der gefühlsmäßige Anteil zurück- und der kalte Informationsanteil in den Vordergrund tritt. Es wird ein Datum in der deutschen Geschichte werden wie die anderen Daten des 9. November auch.

Das Erinnern der nichtjüdischen Deutschen an den 9. November hat sich verändert. Für die jüdischen Deutschen auch?

Nein. Für uns hat sich nichts verändert. Nur die Aufmerksamkeit ist gewachsen, weil der 9. November auf nichtjüdischer Seite auch ein Freudentag ist. Es gibt auf jüdischer Seite natürlich eine gewisse Besorgnis, dass 1938 in den Hintergrund tritt. Ich sehe diese Gefahr nicht. Ich bin sicher, die Ambivalenz dieses Datums wird von nichtjüdischer Seite auch in Zukunft gewahrt werden. Man kann deutsche Schicksalstage nicht einfach dem Vergessen anheimgeben. Das geht nicht. In der Verknüpfung und in der Ambivalenz sehe ich die Chance.

Der 9. November eignet sich immer, um an aktuelle Ereignisse anzuknüpfen. Er eignet sich zum Beispiel auch, um die Lage der Zwangsarbeiter anzusprechen, da die Rekrutierung von Sklavenarbeitern ja auch eine direkte Folge der Ereignisse von 1938 gewesen ist. Denn dieser Tag war ja ein Wendedatum in der Behandlung der jüdischen Deutschen, der einzige Tag, an dem jeder, der sehen wollte, auch sehen konnte, was sich da anbahnte. Es war auch ein Wendepunkt in der Arisierung und in der Enteignung der Juden und damit auch im Verständnis davon, dass eine Minderheit, die als nicht mehr zum „Volkskörper“ gehörig betrachtet wurde, ab sofort ausgebeutet und als Zwangsarbeiter rekrutiert werden konnte. Deswegen kommt der so genannten Reichskristallnacht eine so wichtige Rolle beim Gedenken zu: Es lässt sich so vieles mit ihr verknüpfen.

Fürchten Sie, in die Rolle des Spaßverderbers gedrängt zu werden, der den Deutschen ihren Freudentag mit Bedenklichkeiten verdirbt?

Nein. Ich will ja gar niemandem den so genannten „Spaß“ verderben. So lange man die Janusköpfigkeit des 9. Novembers im Auge behält und das eine Ereignis das andere nicht überdeckt, so lange habe ich keine Sorge.

Interview: Volker Weidermann