Sag mir, wo die Freude ist

■  Vor zehn Jahren war sie da. Dann aber verabschiedete sie sich jammernd, wehklagend und vorgeblichen Sachzwängen folgend ins Haus der Deutschen Geschichte in Bonnam Rhein. Wann wird man je verstehen?

Berlin (taz) – Vor zehn Jahren hat uns der damalige rot beschalte Regierende zugerufen: „Berlin, nun freue dich!“ Wir haben uns gefreut. Aber mittlerweile hat sich erwiesen: Wir Deutschen haben Schwierigkeiten mit der Freude. Und noch schwerer tun wir uns damit, uns freudig zu erinnern, dass wir uns damals gefreut haben. Zur Freude gab es einen guten Grund: den Fall der Mauer. Dieser gute Grund ist heute von hundert schlechten Gründen weggedrückt.

Das hängt mit einem zweiten Mangel zusammen. Wir verstehen es nicht, der Erinnerung an freudige Ereignisse eine würdige symbolische Form zu geben. Symbolische Formen sind kein theatralischer Firlefanz. In ihnen drückt sich republikanische Haltung aus. Dass für die Feier des Bundestages anlässlich des 9. Novembers ein Vertreter der DDR-Bürgerrechtsbewegung ursprünglich nicht vorgesehen war, ist typisch für die Anmaßungen des großmächtigen Politikastertums. Es ist aber auch ein exakter Ausdruck der Unfähigkeit, den demokratischen Aufbruch in der DDR nachträglich würdig zu symbolisieren.

Dem 9. November ging in der gesamten DDR eine großartige Massenbewegung voraus, innerhalb deren die DDRler Furcht und Isolation überwanden, sich spontan zusammenschlossen, unbändige Fantasie und Tatkraft entwickelten, um schließlich das realsozialistische Regime zum Einsturz zu bringen. Dieses in der deutschen Geschichte beispiellose Ereignis, das heute den blassen, von jeder Selbsttätigkeit gereinigten Namen „Wende“ trägt, ist die Folie, auf der allein der 9. November gewürdigt werden kann. Genau dies geschieht nicht. Weshalb nur übrig bleibt, dass einige 100.000 Ostberliner dem Westteil der Stadt einen Besuch abgestattet und das Begrüßungsgeld in Empfang genommen haben.

Man antworte nicht, der Mehrheit der Ostdeutschen habe der Sinn nach nichts anderem gestanden als dem möglichst raschen, unkomplizierten Beitritt zur alten Bundesrepublik. Dieses Ex-post-Argument verrät nichts von der historischen Offenheit jener „großen Tage“ , jener Hochgestimmtheit, in der alles möglich schien, jener revolutionären Erregung, von der Walter Benjamin einst schrieb, die Bürger hätten auf die Turmuhren geschossen, um die Zeit anzuhalten.

Gewiss, gewiss – alles wird zermahlen im Getriebe der Alltagsmühen. Die Bürgerbewegten hat der Erdboden verschluckt. Und: Entschieden nicht die objektiven Faktoren, sprich: der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und Gorbatschows Perestroika? Wirklich? „Die Herrschenden können und die Beherrschten wollen nicht mehr.“ Ein kluger Satz von einem, der es wissen musste – Lenin. Heute steht jede Betrachtung unter dem Unstern „Zwang der Verhältnisse“. So etwas lässt sich schlecht feiern in Stolz und Würde. Christian Semler