Der amerikanische Einsperrungswahn

Das zentrale Rätsel des Falls Raoul Wüthrich ist: Warum legen gerade die USA einen solchen Eifer an den Tag, Kinder als Kriminelle einzustufen? Hinweise auf den traditionellen amerikanischen Puritanismus reichen als Erklärung nicht aus  ■   Von René Grandjean

Raoul lernt gerade das Problem kennen, das die amerikanische Gesellschaft auszuhöhlen droht

Was immer wir über die Eltern von Raoul Wüthrich, dem elfjährigen Knaben, der wegen angeblicher sexueller Belästigung seiner jüngeren Halbschwester in Colorado vor Gericht gestellt werden soll, noch erfahren werden: Das Erstaunliche an der europäischen Reaktion zu diesem Fall ist eigentlich nur der Umstand, dass er überhaupt jemanden erstaunt.

Unbeachtet von der restlichen Welt, haben sich die USA in der letzten Zeit nämlich langsam in eine groteske Landschaft von Strafen und Strafanstalten verwandelt. Dieser jüngste Vorfall ist zwar empörend, aber keineswegs ungewöhnlich. Das Schicksal Raouls muss vor dem Hintergrund einer fast schon epidemischen Welle von Inhaftierungen gesehen werden – und zwar nicht nur Inhaftierungen von Kindern, sondern auch von Asylsuchenden, Schwarzen, Tagesmüttern, Drogenhändlern, Bankräubern, Kokainsüchtigen, geistig Behinderten, Mördern, Gelegenheitsdieben, Puertoricanern und Mafiosi.

Die Vereinigten Staaten übertreffen sogar Südafrika in Bezug auf den Bevölkerungsanteil, der sich hinter Gittern befindet; und nur China tötet mehr seiner Bürger von Rechts wegen. Sogar die UNO ist aus ihrem Schlummer erwacht und hat Kritik an Janet Reno und ihrem Justizdepartement geäußert, weil es auffiel, dass die Todesstrafe vor allem an armen und farbigen Kriminellen vollzogen wurde. Für viele rechtschaffene Menschen, Feministinnen eingerechnet, mag es tröstlich sein zu wissen, dass jeden Tag mehr Männer in Amerikas Gefängnissen als Frauen in Amerikas Straßen und Häusern vergewaltigt werden.

Warum aber sollte ein Kind, das allem Anschein nach mit seiner Halbschwester „Doktor“ gespielt hat, dazu verurteilt werden, eines Tages auch unter diesen missbrauchten Männern zu figurieren? Ist dies eine bittere Frucht des Puritanismus?

Viele glauben, mit dieser Erklärung ins Schwarze zu treffen. Uns scheint einfach klar zu sein, dass die Pilger, die sich in Neuengland niederließen, mit ihren repressiven Moralvorstellungen dem Thema Sex obsessiv verfallen waren und dass sich dies auch noch heute in der amerikanischen Kultur auswirke. So überzeugend dieses Argument auch klingen mag, es ist im Grunde falsch.

Die Puritaner waren zwar obsessiv, zum Beispiel in Bezug auf Hexen, aber nicht hinsichtlich Sex – ja nicht einmal hinsichtlich Wein, Weib und Gesang. Jeder, der sich in den Archiven des puritanischen Amerika umsieht, kann sich überzeugen, dass diese Leute genauso wie ihr berühmter Vorgänger, John Milton, gegenüber Sex, Ehebruch und Scheidung eher liberal eingestellt waren. Sie gaben sich gerne der Wirkung alkoholisierter Getränke hin, übten aber gleichzeitig eine strikte Kontrolle über den Gebrauch von Waffen und über die Wahrung der öffentlichen Ordnung aus.

Was die Leute auf der Mayflower wirklich obsessiv beschäftigte, war das Bedürfnis, ihre Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen. Damit konnten sie zeigen, dass Gott auf ihrer Seite stand und dass alle anderen, inklusive Indianer, Katholiken, Royalisten und weniger eifriger Protestanten, nicht mit von der Partei Gottes waren. Auf diesem Rechtschaffenheitsanspruch basiert auch der Umstand, dass die amerikanische Gesellschaft heute wie damals eine Vorliebe für Rechtshändel, Prozesse und das Justizsystem mitsamt Anwälten und Gefängnissen hat.

Es ist eine große Ironie der Geschichte, dass die neue Republik, die sich gegen die Autorität der englischen Monarchie auflehnte, nie von den Rechtsreformen profitierte, die in England und in zahlreichen seiner Kolonien von Australien bis Kanada im Verlaufe des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden. Amerika schnitt sich also von Reformen ab, die die absurde Handhabung und Ausweitung von Prozessen und Strafverfolgungen, wie sie heute das öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten verseucht, in vernünftige Bahnen gelenkt hätten. Diese Seuche befällt nicht nur das Zivilrecht, wo sie großen Konzernen ermöglicht, Umweltschutzgruppen oder Bürgerinitiativen, die sich gegen manifeste Geschäftsinteressen auflehnen, mit Prozessen zu erdrücken, sondern auch das Strafrecht. In dieser Hinsicht ist es vor allem die Kriminalisierung der Drogen, die zur Überfüllung von Amerikas Gefängnissen und zu einer weitreichenden Veränderung der Rechtspflege geführt hat.

Die Voraussetzung der Unschuld und des Habeas Corpus, nach dem „niemand ohne richterlichen Befehl verhaftet und länger als zwei Tage ohne Verhör in Haft gehalten werden darf“, waren einmal die Eckpfosten des amerikanischen Rechtsstaates. Doch diese hehren Prinzipien sind heute durch die weitgehende Kriminalisierung des öffentlichen Lebens unterhöhlt worden, wenn selbst Taktlosigkeiten oder bloße Dummheiten als Verbrechen deklariert werden.

So ist es durchaus möglich, dass unschuldige Asylsuchende zuerst mal für ein paar Jahre ins Gefängnis gesteckt werden oder dass eine Frau nach einem ehelichen Disput in Ketten gelegt und auf den Polizeiposten geschleppt wird. Desgleichen Kinder, die entweder wegen angeblicher oder wirklich begangener Missetaten verhaftet, verhört, angeklagt und eingekerkert werden können. So kann es geschehen, dass sich ein 13 Jahre alter Junge in Michigan vor einem Geschworenengericht verantworten muss, das ihn anschließend wegen Mordes verurteilt. Für den elfjährigen Raoul ist es ein schwacher Trost zu wissen, dass das, was sich in Colorado abspielte, in Melbourne oder Toronto (und natürlich in der Schweiz, wohin die Eltern flüchteten) undenkbar gewesen wäre.

Selbst wenn Raoul das, wessen er beschuldigt wird, tatsächlich getan hätte, so würde er an anderen Orten der Betreuung von Psychologen, Lehrern und Eltern anvertraut und nicht in die Maschinerie von Gericht, Polizei und Gefängnis eingewiesen.

Was immer Raouls Eltern bewegt haben mag, sich aus Colorado in die Schweiz abzusetzen – die Idee, dass ihnen auch die anderen Kinder weggenommen werden könnten, ist nicht aus der Luft gegriffen. Solch drastische Maßnahmen sind nämlich nicht unbekannt, ist es doch nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Kriminalisierung des amerikanischen Lebens. Beim geringsten Verdacht auf Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung rücken Sozialagenturen an, um den Eltern ihr Kind oder ihre Kinder wegzunehmen.

Als der romantische Lyriker William Wordsworth in seiner „Intimations-Ode“ das Zwielicht voraussagte, das sich auf das Leben eines Kindes legen kann („Shades of the prison-house begin to close / Upon the growing boy“), so dachte er bestimmt nicht an ein Jugendgefängnis in Colorado. Vielmehr dachte er an den Verlust an Vision und Hoffnung, der das Leben eines Kindes, Dichters oder weltoffenen Menschen überschatten kann. Dennoch sollten uns die Worte von Wordsworth zu denken geben, denn es ist fraglich, ob überhaupt jemals ein Kind es verdient, selbst wenn es die Dinge, dessen es beschuldigt wird, tatsächlich getan hat, mit Justiz und Gefängnis konfrontiert zu werden.

Selbst wenn Raoul eine Form des erotischen oder inzestuösen Spiels veranlasst haben sollte: Ist es recht, ihn als Kriminellen einzustufen?

Wenn wir uns mit solchen Fragen befassen, müssen wir nicht nur unseren unmittelbaren Gefühlen als Eltern oder Kinder Folge leisten, sondern auch den wechselnden Wert und Charakter gesellschaftlicher Urteile über Kindheit und Kinder im Auge behalten. Man könnte nämlich der Meinung sein, dass jeglicher Kontakt mit Kindern, wenn ihm eine erotische oder sexuelle Komponente anhaftet, universell und kategorisch verurteilt werden müsse und dass dies immer schon so war.

Doch wie der bekannte Historiker Philippe Aries in seinem Buch „L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime“ gezeigt hat, ereiferte man sich im 17. Jahrhundert überhaupt nicht über spielerischen sexuellen Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern. In der Welt, die von Aries beschrieben wird, scheint es die Konzepte von Trauma und Missbrauch noch gar nicht gegeben zu haben. Ohne eine Rückkehr zu solch eher ungehobelten Zuständen herbeizuwünschen, müssen wir uns dennoch wundern, weshalb denn solche Kontakte unter Kindern oder zwischen Kindern und Erwachsenen heute zu einem solch heißen Thema geworden sind.

Zweifellos messen auch wir diesem Thema eine besondere Bedeutung zu, was die heftigen Reaktionen zum Fall Raoul Wüthrich belegen. Es handelt sich dabei also nicht nur um einen amerikanischen Spleen. Man kann sogar argumentieren, dass das amerikanische Verhalten in diesem Fall wenigstens den Vorteil der Ehrlichkeit hat.

In ihrer Abgeklärtheit sind uns die Amerikaner vielleicht gar eine Nasenlänge voraus, denn in unserem Kulturkreis wurde der sexuelle Missbrauch von Kindern lange vernebelt, beginnend mit Sigmund Freuds Theorie der Hysterie bis hin zur Tabuisierung des gerade heute weit verbreiteten sexuellen Missbrauchs von Mädchen in den europäischen Ländern.

Es gilt nun, noch ein zentrales Rätsel zu lösen. Warum legt gerade die amerikanische Öffentlichkeit einen solchen Eifer an den Tag, Kinder als Kriminelle einzustufen und sie zusammen mit Erwachsenen scharenweise ins Gefängnis zu werfen? Das Rätsel vertieft sich, wenn wir bedenken, dass andere Gesellschaften diesen Einsperrungswahn gar nicht teilen. Dies ist vor allem verwunderlich zu einer Zeit, wo in ganz Amerika die Verbrechensrate im Rückgang begriffen ist.

Selbst wenn man die These des Puritanismus als Mythos entlarvt, so gibt es noch andere Kräfte im Leben Amerikas, die für die Behandlung von Raoul und von Millionen anderer Jugendlicher verantwortlich sind. Die wichtigste dieser Kräfte ist einerseits die religiöse Rechte und deren ungebremste Privatisierung von Kultur und Verhalten und andererseits die Verinnerlichung von privaten Ängsten, die lange Zeit vom Kalten Krieg absorbiert wurden.

In Europa, wo die unumgängliche Nähe zu unserem Nachbarn uns diesen zwar nicht unbedingt lieben, aber immerhin kennen lässt, gibt es ein so viel größeres Maß an geteilter öffentlicher Kultur, dass wir uns nur schwerlich vorzustellen vermögen, wie atomisiert das Sozialgefüge im Land der Auto-Mobilität, der klimatisierten Luft, der Vervorstädterung und des Waffenfetischismus ist. Raouls Nachbarn mögen sich zu ihrer Wachsamkeit gratulieren, doch ihre Bereitschaft anzuklagen ist typisch für diesen aggressiven Isolationismus.

Die christliche Koalition hat es zu Stande gebracht, den Diskurs über Ethik auf Sex zu reduzieren und Politik mit der Opposition gegen Abtreibung gleichzusetzen. Die so genannten Pro-Life-Gruppen lieben den Fötus mit einer Innigkeit, die bald nach der Geburt in Gleichgültigkeit umschlägt, um dann einer zunehmenden Entfremdung oder gar dem Hass gegen das heranwachsende Kind Platz zu machen.

Die in der amerikanischen Politik dominierenden Kräfte glauben eigentlich gar nicht an die integrierende Wirkung einer heilen Gesellschaft, weder zu Hause noch im Ausland. So sagte ein führender Republikaner: „I've been to Europe once, I don't need to go there again.“ Obwohl solche Politiker dem Allgemeinwohl dienlichen Steuern feindlich gesinnt sind, setzen sie sich für vermehrte Rüstungsausgaben ein und budgetieren Milliarden für den Bau von Gefängnissen. Ein Meilenstein wurde vor drei Jahren erreicht, als Kalifornien, lange das Liebkind der Welt mit seinem hervorragenden System von staatlichen Colleges und Universitäten, zum ersten Mal mehr Geld für den Betrieb von Gefängnissen ausgab als für die Hochschulen. Mit anderen Worten: Ein Gefängnisinsasse kostet den Staat Kalifornien mehr als ein Student in Berkeley, einer der besten amerikanischen Universitäten.

Raoul wird es vielleicht nicht zum Studenten bringen, aber seine Tage im Jugendgefängnis haben ihn mit einem Problem vertraut gemacht, das die amerikanische Gesellschaft auszuhöhlen droht.

Hinter dem Pseudonym René Grandjean steckt ein bekannter Kenner der amerikanischen Kultur, der gegenwärtig im Bewerbungsverfahren für eine amerikanische Green Card ist. Sein Anwälte haben ihm daher geraten, diesen Text unter Pseudonym zu publizieren.