■  Zum gestrigen Mauerfall-Jubiläum traten im Bundestag mehr Staatsmänner an, als eine einzelne Feierstunde ertragen kann. Ohne eitle Floskeln trat vor allem ein Mann auf: der nachträglich eingeladene hauptberufliche Hüter der Stasi-Akten, Joachim Gauck. Er sagte:
: „Sie hatten das Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“

In nur vier Worten fasste Joachim Gauck zusammen, was die Wende vom Herbst 1989 möglich machte: „Ein Traum vom Leben.“ Es hat an hochmögenden Rednern nicht gemangelt, an diesem 9. November im Bundestag. Mit Bush und Gorbatschow, Thierse, Kohl und Schröder traten mehr Staatsmänner an, als eine einzelne Feierstunde ertragen kann, ohne dass sich das Festvokabular von Demokratie, Frieden und Freiheit abnutzt. Doch gerade darum hat es sich gelohnt, mit Gauck noch kurz vor Torschluss einen Vertreter der ostdeutschen Bürgerbewegung auf die Rednerliste zu setzen.

Ganz ohne Floskeln sind seine Sätze und frei vom Bemühen vor allem sich selbst in Szene zu setzen. Er verteidigt den Ernst und wohl auch den Elan, mit der im Herbst 1989 die Wendebürger in der DDR eigene Wege gingen. „Da mochtet ihr vom Westen lange ulken: Freunde, das Rad ist schon erfunden, mochtet ,rührend‘ finden, was sich unter uns vollzog.“ Gewiss, eine Laientruppe sei das gewesen, die sich damals in der Demokratie erprobte. Aber „wer damals mittat, weiß: Ein schönes Laienspiel war das!“ Auch von späterer Enttäuschung spricht der Stasi-Beauftragte Gauck, davon dass die Ostdeutschen sich nach der Einheit als Lehrlinge wiedergefunden hätten. „Sie hatten das Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“

Es blieb einer von sehr wenigen Lachern im Bundestag. Während das Aufgebot an Rednern vermuten lässt, dass der 9. November zunehmend zum inoffiziellen Nationalfeiertag avanciert, erlaubten sich nur die ausländischen Gäste Michail Gorbatschow und George Bush lockere Töne. „Wir können Ihnen anbieten, Ihre Probleme gegen unsere zu tauschen“, bot Gorbatschow an.

Den deutschen Rednern saß die Vergangenheit im Nacken – und damit die Frage, wessen Wende es denn nun 1989 eigentlich gewesen sei. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wagte sich dabei am weitesten vor. „Heute vor zehn Jahren war das ostdeutsche Volk der Held.“ Die damalige Bundesregierung sei allenfalls mittelbar am Fall der Mauer beteiligt gewesen. Kohl als alleiniger Held von 1989? Das mag der ostdeutsche SPD-Politiker nicht gelten lassen. Wie Kohl und seine Mitstreiter in Washington und Moskau den Gang der Geschichte beurteilen, ließ sich schon am Abend vor der Feierstunde beobachten.

Das Lächeln beseelt, die Hände über dem Bauch gefaltet, der massige Leib sanft vor und zurück wippend – der Mann befindet sich längst in höheren Sphären. Das Bild vom Buddha wird oft bemüht, wenn es in den letzten Monaten öffentliche Auftritte des Ruheständlers Helmut Kohl zu beschreiben gilt. Auch am Abend vor dem 9. November füllt er den Sessel, den ihm die Organisatoren eines „Gipfelgesprächs“ im Berliner Springer-Hochhaus auf die Bühne gestellt haben, mehr als aus.

Anders als sonst fasst er diesmal immer wieder über die Grenze seiner Armlehne hinaus. Zur einen Seite ist Michail Gorbatschow platziert, zur anderen George Bush. Seine Zuwendung verteilt Helmut Kohl allerdings einseitig. Er greift über den Spalt zwischen sich und seinem Sitznachbarn, drückt ihn sanft oder lässt für einen kurzen Moment seine Hand beim anderen ruhen. Politisch war der Ex-Kanzler immer den Amerikanern verbunden, aber seine Zuneigung schenkt er dem Mann aus Moskau, „meinem Freund Michael“.

Der Auftritt im Bundestag wie der bei Springer sind beileibe nicht die einzigen Termine, welche die drei Politpensionäre in diesen Tagen in Berlin absolvieren. Wie Schutzheilige sind sie gebeten worden, über den Feierlichkeiten zum zehnjährigen Jubiläum des Mauerfalls zu schweben. Doch deutlicher als bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde Berlins an Bush oder dem Pressegespräch von Kanzler Schröder mit Gorbatschow werden bei der Plauderstunde im Springer-Haus auch die Unterschiede zwischen den dreien sichtbar.

George Bush lädt nicht zum Kuscheln ein. Zu hochgewachsen, zu knochig wirkt der frühere Präsident, und der Eindruck beschränkt sich nicht auf Äußerlichkeiten. Natürlich sind die Gedenkstunden Festspiele der schönen Sätze, mit denen sich die Beteiligten wechselseitig zu Tränen rühren. Davon ist Bush nicht ausgenommen, etwa wenn Kohl ihn „einen Freund in vielen Tagen, aber vor allem einen Freund in den entscheidenden Tagen“ nennt. Doch ist bis jetzt etwas von der Unterkühlung zu spüren, die man Bush schon nach dem 9. November vor zehn Jahren vorhielt. Wie er auf den Zehnpunkteplan von Helmut Kohl reagierte, wird er gefragt. „Ich bin 75 Jahre alt, wie soll ich mich da noch an Details erinnern?“, gibt er zurück. Vielleicht ist es Ironie – oder wirklich nicht so wichtig. Kohls Stufenplan für eine deutsch-deutsche Konföderation war schließlich schon binnen Wochen überholt.

„Die Haupthelden, das waren die Russen und die Deutschen“, sagt Gorbatschow, nicht die Regierungen und Apparate. Auch Bush und Kohl sparen nicht an Lob fürs Volk. Von dort kam der Wille zur Veränderung, so die Überzeugung der Politpensionäre, die Gestaltung freilich lag in ihren Händen. Gemeinsam fühlen sie sich als Väter der Einheit: Drei Männer und ein Deutschland. Patrik Schwarz