Revolution ahoi!

Zum Siebzigsten: Franz Wittenbrink vertont Hans Magnus Enzensbergers Untergang der Titanic im Schauspielhaus  ■ Von Ralf Poerschke

Große deutsche Dichter werden 70, Teil zwo. Am 25. Oktober traf es Peter Rühmkorf, der in der Konkret anno 1958 über einen jüngeren Kollegen ins Schwärmen geriet: „Endlich, nach so viel Windstille in der Stillebenpönerei, daß einer das Hohelied des Ungehorsams singt.“ Dieser einst widerständige Barde feiert nun selbst seinen 70. Geburtstag, den er jüngst anlässlich eines Abstechers in Hamburg als „kalendarische Angelegenheit“ abtat, weswegen ihm am 11. November das hiesige Schauspielhaus die Party in Form einer Theaterpremiere organisiert. Gesungen wird auch, aber diesmal das Hohelied des Untergangs, der freilich ein fröhlicher zu werden verspricht.

Derlei Ambivalenzen und Doppelbödigkeiten ziehen sich paradigmatisch durch das Werk von Hans Magnus Enzensberger, das 1957 mit dem Gedichtband verteidigung der wölfe seinen Anfang nahm. Im Titelgedicht fragt er die wirtschaftswunderlichen Lämmerbürger: „Wer näht denn dem General/ den Blutstreif an die Hose?“ Proletarische Revolution ist mit diesem nicht-kommunistischen Anarcho-Marxisten (oder so) nicht zu machen, nicht einmal studentische („Die Republik, die wir haben, wird noch benötigt“), für Parteien und Ideologien lässt er sich nicht einspannen – seine Lyrik befindet sich stets auf der zweifelnden Seite der Politik.

Von diversen Umtriebigkeiten jenseits der Gedichtform hält ihn das nicht ab, wobei Enzensberger den anderen immer ein paar Jahre voraus ist: 1965 gründet er das Kursbuch, als von einer linken Öffentlichkeit kaum etwas zu spüren ist; 1970 postuliert er den „emanzipatorischen Mediengebrauch“ als Interventionsmöglichkeit, da die meisten schreibenden Kollegen das Fernsehen noch pfui finden; 1973 bringt er als einer der ersten den Begriff Ökologie ins intellektuelle Spiel. Und mit seinem Engagement für den Golfkrieg 1991 nimmt er abermals etwas vorweg, was sich mit dem Jugoslawienkrieg der Nato endgültig vollzogen hat: die fast vollständige Abkehr der (ex-)linken Prominenz von pazifistischen Positionen.

„Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit“: Unter diesem selbstformulierten Motto geht Enzensberger 1968 für über ein Jahr nach Kuba – und seiner wohl letzten realexistierenden Utopie ver-lustig. Die Pointe des komplett desillusionierendem Aufenthalts auf der kommunistischen Trauminsel stammt allerdings nicht von ihm: Fidel Castro ist es, der Enzensberger später als „CIA-Agent“ abstempelt. Das noch auf Kuba verfasste Gedicht zum Thema, ohne Durchschlag geschrieben, geht auf dem Postwege nach Europa verloren. Erst 1977 wird er doch noch fertig: Der Untergang der Titanic.

Diese „Komödie in 33 Gesängen“ ist ein verwegen komplexes lyrisches Großprojekt, ein assoziatives Bermuda-Dreieck zwischen dem Ozeanriesen, Kuba und Berlin. Das Versinken eine Schiffes samt aller damit einhergehenden Details ist in Tuchfühlung gebracht mit dem langsamen Untergang eines Gesellschaftssystems; historische Realität und Mythos sind raffiniert verschliffen; dazwischen Bildbeschreibungen und erkenntnistheoretische Reflexionen. Wer spricht? Schwer zu sagen, es gibt keine Personen. Aber das Werk war ja auch nicht als Bühnenliteratur gedacht, was etliche Theater- und Opernregisseure nicht daran hinderte, sich mit dem Stoff auf ästhetisches Glatteis zu begeben und anschließend baden zu gehen. Der Dichter habe den Überblick verloren über all die gescheiterten Aufführungs- und Dramatisierungsversuche.

Wenn Enzensberger also jetzt sagt: „Es ist für einen Autor ein Glücksfall, in dieser Konstellation einen Abend zu riskieren“, dann will das einiges heißen. Die Arbeit des einen, des Regisseurs Anselm Weber, kennt der Wahl-Münchener sowohl aus dem Residenztheater als auch aus den Kammerspielen. Den anderen im Bunde, Franz Wittenbrink, seines Zeichens begnadeter Liederabendmacher, hat Enzensberger auf den Salzburger Festspielen lieben gelernt, wo er von dessen Produktion Komm, süßer Tod... schier hingerissen war. Wittenbrink bestreitet den Abend ausschließlich mit Neukompositionen, Raimund Bauer hat eine Bühne gebaut, die zwischen Dampfer und Strandpromenade oszilliert, und Weber kündigte bereits einen riesigen Che-Guevara-Weih-nachtsbaum an. Ein amüsantes Wagnis steht bevor – hoffentlich wird es kein Bildersturm im Wasserglas (mit Eiswürfeln drin).

Premiere: Do, 11. November, 20 Uhr, Schauspielhaus