Die Feiern sind vorbei: Das war das Volk

Die Mauerfall-Party hat viele nicht berührt. Weil die Brüderlichkeit der Wendezeit längst Geschichte ist  ■   Von Annette Rollmann

Der Wind weht scharf auf der Bornholmer Brücke. Doch die Menschen aus den Nachbarbezirken Wedding und Prenzlauer Berg stört das kaum. Sie stehen dort mit dicken Jacken und halten Kerzen in den Händen. „Es ist einfach wunderbar“, sagt Rita Bratfisch mit strahlenden Augen. Die Bösebrücke an der Bornholmer Straße, die Ost- und Westberlin nur für Personen mit Visum verband, wurde vor zehn Jahren der wichtigste Grenzübergang in Berlin. Hier wurden die Schlagbäume als Erstes hochgezogen, um 23 Uhr 30. Und auch heute feiern jene Leute, die in der Novembernacht 1989 vor dem Schlagbaum standen und riefen: „Wir wollen raus!“ Leute, wie Herr und Frau Bratfisch aus Ostberlin. Und Westdeutsche wie das Ehepaar Grehl. Die Familien haben sich an diesem Abend des 9. Novembers 1999 auf der Brücke verabredet. Mit Sekt stoßen sie auf damals an.

Rita Bratfisch erzählt: „Damals, am 9. November, sind mein Mann und ich zum Grenzkontrollpunkt. Wir waren mit die Ersten dort. Irgendwann haben sie uns durchgelassen, und wir mussten den dunklen einsamen Weg zur Brücke hoch gehen. Mir haben die Knie gezittert. Es kam uns vor, als seien wir die Einzigen.“

Zu diesem Zeitpunkt war die Entwicklung dieser Nacht noch offen. Frau Bratfisch zieht die alten Pässe aus ihrer Anoracktasche, mit den Passbildern, die halb abgestempelt sind. Eigentlich sollten solche Bürger nicht mehr in die DDR zurückreisen dürfen. Frau Bratfisch war das nicht bewusst. Dennoch: „Ich hatte Angst.“

Auf der anderen Seite der Brücke standen damals Peter und Editha Grehl mit ihrem Wagen. Sie suchten nach einem „netten Ehepaar“, dem sie eine Stadtrundfahrt anbieten könnten. Als sich Herr Grehl daran erinnert, grinst er selig, als würde er die Bratfischs gleich wieder ins Auto laden, um ihnen die große weite Welt Westberlins zu zeigen.

Grehls und Bratfischs sind sich einig: Der Fall der Mauer war wunderschön. „Das war nicht von Menschenhand gemacht“, sagt Herr Bratfisch. „Manchmal gibt es eben ein Zeichen Gottes.“

Beim Fest am Brandenburger Tor ist alles von Menschenhand organisiert, von der Bundesregierung und dem Berliner Senat. Heimeligkeit ist hier nicht zu spüren. Zehn Jahre später skandiert das Volk nicht mehr „Wir sind das Volk“, sondern: „Schirme weg. Schirme weg.“

Auf dem Pariser Platz drängen sich rund 40.000 bis 50.000 Menschen, die sich gegenseitig die Sicht auf die Bühne nehmen. Es regnet. „Die Feier ist ja wohl gar nichts“, sagt eine Frau. Sie hofft: „Es müssen doch noch Gefühle kommen.“

Viele sind der vermeintlichen Gefühle wegen auf diesen Platz gekommen, wo über Großleinwände die Bilder von Menschen flimmern, die sich in die Arme fallen, auf die Mauer klettern, um in einen Todesstreifen zu springen, der seinen Schrecken noch nicht ganz verloren hat. Die Gefühle der Euphorie und Verbundenheit sind im Film zu sehen, nicht heute auf dem Platz .

„Ach Gottele, der Momper ist da. Na der, der ist heute auch schon abgemeldet“, sagt eine ältere Dame. Als das Gedränge besonders groß wird, ruft einer: „Gibt es da vorne Bananen?“ Einige lachen.

Der Ausdruck in den Gesichtern ändert sich erst, als Mstislav Rostropovich mit seinem Streichorchester Johann-Sebastian Bach zum Besten gibt. Der Ausnahme-Cellist ist vor 10 Jahren spontan von Paris nach Berlin geflogen, um amCheckpoint Charlie Bach zu spielen. Einige Zuhörer werden wehmütig. Ein Mann, der hinter seiner Frau steht, zieht liebevoll den Schal über ihr Haar. Später grooven die Leute dann noch zu Udo Lindenbergs Lied „Sonderzug nach Pankow“.

Aber Stimmung? Moderator Andreas Schneider erreicht die Menschen mit seiner Art nicht. Er wirkt kühl, irgendwie unbeteiligt.

Die Bürgerrechtler Marianne Birthler, Hildigung Neuberth und Sebastian Pflugbeil sagen wie bei einer Abiturfeier pflichtschuldig ihre mahnenden Worte zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten auf. Dann veranstaltet Bundesfamilienministerin Bergmann ein lustiges Fahnenraten mit wie nette Pappkameraden wirkenden Jugendlichen aus 28 europäischen Ländern.

Die große Politik der Wendezeit ist mit dem ehemaligen sowjetischen Generalsekretär Michael Gorbatschow und dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl auf die Bühne getreten. Schröder spricht, Diepgen spricht, aber ihre Worte finden kein Echo. „Gorbi, Gorbi“, klingen Rufe aus der Menge. Und dann: „Helmut, Helmut.“ Die beiden Herren winken, fast verunsichert. Für einen kurzen Moment zögert Kohl und scheint das Mikrofon ergreifen zu wollen. Dann beugt er sich dem Protokoll.

Viele jüngere Besucher gehen an diesem Abend unzufrieden nach Hause: Die 15-jährige Samira hält ein Schild in die Höhe: „Heute ist kein Grund zum Feiern. 9. November 1938.“ Von einer alten Frau wird sie beschimpft: „Hau doch ab. Was gehen mich die Juden an.“

Am Checkpoint Charlie ist eine weitere kleinere Bühne aufgebaut. Auf einem zermatschten Stückchen Erde, vormals Wiese, stehen etwa 200 Liebhaber der Rockmusik. Irgendjemand spielt ganz schön. Wer, weiß keiner der Umstehenden. Es gibt einen Bierstand mit Glühwein. „Am Brandenburger Tor waren wir auch schon. Jeder sagt, man soll dahin gehen. Aber niemand weiß, was man da soll“, sagt Martin Uebele, der aus Frankfurt am Main stammt und seit zwei Jahren in Berlin lebt. Er findet es schön, hier den Fall der Mauer zu feiern, „direkt neben dem lustigen Turm hier“. Er meint den früheren Wachturm der DDR-Grenzposten. „Die Geschichte der DDR ist jetzt schon Geschichte“, sagt sein Freund. Er kommt auch aus dem Westen, wie fast alle hier.

Auf der Bösebrücke stehen die Leute mit Kerzen dicht gedrängt vor einer kleinen Bühne. Viele der 1.000 Menschen, die hierher gekommen sind, kennen sich. Und auch die, die auf der Bühne stehen, gehören dazu. Wie Bekannte, die man in der guten Stube empfängt. „Das ist unser“, sagt eine ältere Frau und meint damit ihren Bürgermeister aus dem Wedding. „Den Nisblé“, wie sie sagt, der neben dem aus dem Prenzlauer Berg steht, „dem Kraetzer“. Und schließlich hat auch noch Steffi aus der nahen Greifswalderstraße Geburtstag. In ihr sehe man natürlich die Zukunft, sagen die Bürgermeister salbungsvoll. Hier auf der Brücke ist das Pathos und das Gefühl, das die Menschen an den anderen Orten in Berlin gesucht haben. Hier machen sie das, was sie auch vor zehnJahren gemacht haben. Sie singen. Diesmal ist es ein Ständchen für Steffi, die um 23 Uhr 30 vor zehn Jahren geboren wurde.