■ Surfbrett
: Die doppelte Moral von AOL

Der größte Onlinedienst der Welt ist stolz auf seine Hauspolizei. Die „scouts“, wie sie heißen, dürfen sogar private Post der Mitglieder lesen, wenn Gefahr für die Moral der großen Onlinefamilie in Verzug ist. Manchmal drücken die Sittenwächter aber auch beide Augen zu, wie man unter www.nationalgaylobby.org nachlesen kann. AOL zensiert schwule Nutzerprofile, schwulenfeindliche Bemerkungen, Aufrufe zu Gewalt gegen Schwule; eindeutig rassistische Pseudonyme von Usern dagegen werden ignoriert. Diesen Vorwürfen führender Schwulenorganisationen der USA hat sich auch die American Civil Liberties Union (ACLU) angeschlossen. Anlass war der Fall eines AOL-Kunden, der Ende Oktober aufgefordert worden ist, sein Profil durch eine nichtsexuelle Sprache zu ersetzen. Er hatte sich als „unterwürfiger Bottom“ bezeichnet, was den in Nutzungsbedingungen festgelegten Standards von AOL widerspreche.

Eine Blitzuntersuchung von AOL-Namen durch die Internet-Beratungsfirma Wired Strategies ergab jedoch, dass Hobbys wie „Ich mag mein Bier kalt und Schwule tot“ oder „Tunten töten“ in den Nutzerprofilen offenbar nicht beanstandet werden. Man werde nur auf Beschwerde anderer User hin aktiv, erläuterte AOL seine Doppelmoral. Die Schwulenorganisationen haben AOL jetzt aufgefordert, sich mit Vertretern der Gay Community an einen Tisch zu setzen und über eine Anti-Hass-Politik zu verhandeln. Nach langem Zögern hat AOL einem Treffen zugestimmt. Die National Gay Lobby droht im Falle des Scheiterns der Verhandlungen bis zum 15. November mit einem Boykottaufruf gegen AOL und die Unternehmen, die bei dem Onlinedienst Bannerwerbung geschaltet haben. Im letzten Jahr ist AOL schon einmal unter Beschuss schwuler Bürgerrechtsorganisationen geraten. Der Onlinedienst hatte auf Anfrage der amerikanischen Marine bereitwillig die Daten des Marineoffiziers Timothy McVeigh herausgegeben. McVeigh wurde unehrenhaft entlassen, weil er angegeben hatte, schwul zu sein. Es war der Onlinekampagne von Wired Strategies zu verdanken, dass der Fall des Timothy McVeigh öffentlich wurde. Er klagte, das Gericht gab ihm Recht und entschied, die Navy habe sowohl gegen Electronic Communications Privacy Act verstoßen als auch gegen die Regelung, die es der US-Armee untersagt, bei vermuteter Homosexualität eines Soldaten in dessen Privatleben nach Beweisen zu suchen. Michael Lenz

lenz.michael@gmx.net