Schweigen ist falsch“

■  Die grüne Europaabgeordnete Elisabeth Schroedter fordert Sanktionen gegen Russland wegen des Krieges in Tschetschenien. Wie im Kosovo geht es um schwere Menschenrechtsverletzungen

taz: Die Schreckensmeldungen aus Tschetschenien häufen sich. Viele Orte liegen unter Dauerbeschuss. Zudem sitzen die Menschen an der Grenze fest.

Elisabeth Schroedter: Das wirklich Dramatische an diesem Krieg ist, dass es für die Zivilbevölkerung keine Möglichkeit gibt, vor den Bomben zu fliehen. Das hat bereits zu einer Katastrophe geführt. Der Winter hat begonnen und die Menschen warten auf den Straßen. Gerade die Selbsthilfe in den Großfamilien in Inguschetien und Tschetschenien während des Krieges von 1994–96 hat entscheidend dazu beigetragen, dass viele Menschen diesen Krieg überlebt haben. In den Familien konnte auch die internationale Hilfe andocken. Wenn das jetzt verhindert wird, ist das klar als Versuch eines Völkermords zu werten.

In der vergangenen Woche hat das Europäische Parlament den Beschluss über den Abschluss des Wissenschaftsabkommens mit Russland wegen des Tschetschenien-Krieges ausgesetzt. Ist das ausreichend?

Das war eine alleinige Entscheidung des Parlaments, gegen den Willen der Kommission. Sie hat versucht, das Parlament davon abzuhalten. Daran wird deutlich, das das Parlament die einzige Kraft in der EU ist, die ganz klar für Sanktionen eintritt.

Eine weitere Möglichkeit wäre, die nächste Tranche eines Kredites des Internationalen Währungsfonds auszusetzen. Das gleiche gilt für Lebensmittelhilfen und das Tacis-Programm über technische Hilfen. Das kann man mit dem bereits bestehenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland begründen, das eine Menschenrechtsklausel enthält. Diese Klausel ist quasi die Grundlage des Abkommens. Das ist ganz klar: Das Abkommen muss solange ausgesetzt werden, bis die gemeinsamen Grundlagen wiederhergestellt sind. Wieso kann man an anderen Stellen der Welt Menschenrechtsverletzungen zum Anlass nehmen, um zu intervenieren? Und hier gibt es nicht einmal diese einfache Form, auf ein Ende der Bombardements zu drängen, indem man Wirtschaftshilfen aussetzt.

Wie ist die Zurückhaltung beispielsweise der Kommission gegenüber Russland zu erklären?

Russland ist der Zukunftsmarkt, insbesondere was die Rohstoffe betrifft. Alle Abkommen mit Russland zielen genau auf diesen Markt. Ein weiterer Grund ist das KSE-Abkommen. Dieses Abkommen, das Russland ein erhebliches Waffenarsenal auch im Nordkaukasus zugestanden hat, ist unmittelbar an die Nato-Osterweiterung gekoppelt gewesen. Dort sind die Einflusssphären intern definiert worden und Tschetschenien gehört eben zur russischen Einflusssphäre.

Hinter all dem steht natürlich auch der Gedanke, dass Russland ein zentraler Partner im europäischen Sicherheitssystem ist. Aber wenn ich einen Partner habe, bedeutet das nicht, dass ich mit ihm nicht klar sprechen kann, und ihm sage: Partnerschaft hat auch gemeinsame Regeln. Im Rahmen der OSZE gilt die Regel, dass Militär nicht gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden darf. Genau das aber passiert im Tschetschenien-Krieg.

Stets wird von den besonderen deutsch-russischen Beziehungen geredet. Aber die Bundesregierung hält sich bedeckt. Warum?

Die Bundesregierung spielt zu sehr den Russland-Freund. Eigentlich waren die Menschenrechte ein zentraler Punkt und Ziel der Koalition. Und da macht es keinen Unterschied, ob die Menschenrechte im Kosovo oder in Tschetschenien verletzt werden. Hier steht die strategische Politik eindeutig im Vordergrund. Aber es kann kein Sicherheitskonzept für Europa geben, wenn in einem wichtigen Teil Europas, und dazu gehört der Kaukasus, Städte niedergebombt und Menschen vertrieben und unterdrückt werden. Eine scharfe Intervention gegen die machtpolitischen Kreuzzüge Russlands im Kaukasus wäre im Sinne einer europäischen Sicherheit mehr wert, als die derzeitige verhaltene Position.

Hat die Zurückhaltung der Grünen etwas mit ihrer Haltung während des Kosovo-Krieges zu tun?

Das Problem ist, dass es keine klare Russland-Politik gibt, die differenziert, dass Russland zwar Partner im europäischen Sicherheitskonzept ist, dass das aber auch bedeutet, dass dort Menschenrechte eingehalten werden. Es gibt keine gemeinsame Strategie. Da scheint es dann das Einfachste zu sein, zu schweigen. Das ist falsch. Denn im Rahmen der OSZE-Strategie für ein gemeinsames Sicherheitskonzept kann es nur gleiche Werte geben. Und das sind in erster Linie die internationalen Menschenrechte und die sind ganz klar definiert.

Auch Bundesaussenminister Joschka Fischer hätte Möglichkeiten gehabt, so zum Beispiel beim Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Igor Ivanow.

Dieses Gespräch wäre eine wichtige Möglichkeit für die Vorbereitung des EU-Russland-Gipfels im Oktober in Moskau gewesen. Fischer hätte ganz klar mit der Möglichkeit von Sanktionen drohen müssen, wenn es nicht deutliche Anzeichen dafür gibt, dass die Bombardements aufhören. Es hätte Fischer gut angestanden, wenn er so klare Worte gefunden hätte.

Ich möchte einen Vergleich zu 1995 ziehen. Damals ist das Interimsabkommen der EU mit Russland ausgesetzt worden, als der erste Tschetschenien-Krieg begann. Auch hier war das Europäische Parlament die treibende Kraft. Aber der Ministerrat war ebenfalls bereit, Sanktionen zu verhängen. Interessanter war, dass das die deutsche Präsidentschaft unter Kinkel zuerst nicht wollte, sich dann aber doch für diesen Schritt entschied. Das ermöglichte es, eine OSZE-Mission nach Grosny zu schicken. Und das war ein erster, entscheidender Schritt zur friedlichen Beilegung des Konfliktes.

Im Juli 1996 wurde der Friedensvertrag geschlossen. Hat der Westen seitdem etwas versäumt?

Die ökonomische Entwicklung dieses Gebiets wäre eine zentrale Voraussetzung für die Befriedung gewesen. Die Schwierigkeit war, dass alles über die Zentralregierung geregelt worden ist, die nicht dazu gebracht werden konnte, über den Status Tschetscheniens zu verhandeln. Das wäre eine wichtige Voraussetzung gewesen, auch im Sinne Russlands. Denn Moskau möchte das Gebiet ja in der Russischen Föderation halten. Daher waren ein Autonomiestatus und die ökonomische Entwicklung zentrale Fragen. Und beides hätte der tschetschenische Präsident Arslan Maschadow, der für den friedlichen Kurs steht, auch gegenüber den Extremisten unterstützt. Doch das ist unterlassen worden. Nach dem Motto: Da ist ja im Moment Ruhe.

Das EU-Russland-Aktionsprogramm sieht Unterstützung für die russischen Regionen vor, die an den westlichen Grenzen liegen. Ich habe versucht, den Nordkaukasus in das Aktionsprogramm mithineinzunehmen, weil ich gehofft hatte, dass davon ein Impuls für eine positive Entwicklung ausgeht. Das wurde aber abgelehnt, weil es scheinbar nicht im westlichen Interesse lag.

Was erwarten Sie von dem bevorstehenden OSZE-Gipfel?

Die Vorbereitungen sind fast wichtiger als der Gipfel selbst. Und da hoffe ich, dass der Westen endlich aufhört, diesen moderaten Ton anzuschlagen. Denn wenn er jetzt nicht ernsthaft versucht, an der Konfliktbefriedung in Tschetschenien wirklichen Anteil zu haben und klar zu sagen, dass das keine innere Angelegenheit von Russland ist, weil internationale Menschenrechte keine innere Angelegenheit irgendeines Landes sind, setzt er sich dem Vorwurf der Doppelmoral aus. Es muss Ziel des Gipfels sein, Russland zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes zu zwingen. Das heißt, dass eine OSZE-Mission nach Tschetschenien geschickt wird, die zwischen Maschadow und der russischen Regierung vermittelt. Dabei muss der erste Schritt ein Waffenstillstand sein. Dazu bedarf es aber Androhungen von Sanktionen. Sonst ist Russland dazu nicht bereit. Interview: Barbara Oertel