Nachlese zum 9. November
: Ein Stündchen mit der Berliner Polizei

■ Wie zwei Redakteure vorläufig festgenommen und zahlreicher Straftaten verdächtigt wurden. Ein persönlicher Erlebnisbericht

Dies ist eine persönliche Geschichte: Eine Geschichte, wie wir sie nicht ungeprüft glauben würden, wenn sie uns ein Informant erzählte. Eine Geschichte, die wir bei der Polizei gegenchecken würden. In diesem Fall ist die Ausgangslage eine andere: Wir haben sie selbst erlebt.

Meine taz-Kollegin Annette aus dem Inlandsressort und ich wurden am Abend des 9. November am Brandenburger Tor von der Polizei vorläufig festgenommen. Die Begründung: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und Beleidigung. Konkreter: Annette soll Polizeibeamte mit einem Schirm geschlagen, ich eine Polizeibeamtin angespuckt haben.

Gegen 20 Uhr spazierten wir auf der Ebertstraße unmittelbar am Brandenburger Tor in Richtung Straße des 17. Juni. Wir befanden uns in einer durch spanische Reiter abgegrenzten Zone, in der sich nur wenige Personen befanden.

Eine Polizeibeamtin mit der Dienstnummer 10965 wies uns zurecht: „Hier dürfen sie nicht durch. Gehen Sie zurück.“ Wir fragten warum. Sie sagte sinngemäß: „Weil ich es ihnen sage.“ Wir lachten. Vielleicht lachten wir frech. Zu frech? Irgendeinen Grund muss es doch für das geben, was anschließend geschah.

Wir drehten nicht sofort um, sondern diskutierten, warum wir unseren Weg nicht fortsetzen könnten. 20 Meter nach vorn, statt 40 Meter zurück. Die Polizistin fragte: „Haben Sie eine Berechtigung?“ Berechtigung? Wir lachten. Dennoch drehten wir um, diskutierten allerdings weiter.

Nun wollte sie unsere Ausweise sehen. Es war der 9. November 1999. Wir waren umgeben von zehntausenden feiernden Menschen. Wir spazierten über eine Straße. Ich sagte: „Nein, dafür sehe ich keine Veranlassung.“ Die Polizistin forderte uns ein zweites Mal auf. Ich weigerte mich erneut.

10965 richtete sich an Annette. „Machen sie ihren Schirm zu.“ Die erwiderte: „Warum? Es regnet.“ Die Antwort: „Sie könnten mich damit angreifen.“ Wir lachten. Inzwischen war eine zweite Beamtin dazugekommen. Die erste sagte: „Jetzt reichts.“ Dann griff eine von beiden nach dem Schirm, und versuchte, ihn entzweizubrechen. Beide Beamtinnen griffen nun nach Annette und drehten ihr die Arme auf den Rücken. Eine Beamtin verletzte sie an der Hand, dass sie blutete. Ein männlicher Beamter kam dazu. Gemeinsam führten die drei Polizisten meine Kollegin in den Streifenwagen.

Ich ging unbehelligt hinterher und stellte mich hinter den Wagen. Nach etwa drei Minuten kam ein Beamter, der am bisherigen Geschehen unbeteiligt war, und führte mich zu einem Streifenwagen. Nach etwa fünf Minuten fragte ich ihn: „Warum sitze ich eigentlich hier.“ Er erwiderte: „Das weiß ich nicht, aber ich vertraue einfach mal meinen Kollegen.“ Ich wartete also weiter in einem Polizeiwagen, ohne zu wissen, warum.

Nach etwa zehn Minuten kam 10965 in meinen Wagen. Sie suchte nach einem Pflaster für meine Kollegin. Ich fragte sie, warum ich hier sei. Sie erwiderte: „Sie sind vorläufig festgenommen“. Ich fragte, warum? Sie: „Wegen Körpververletzung“. Vor Schreck vergaß ich zu fragen, weshalb.

Weitere zehn Minuten später wurde ich aus dem Wagen entlassen. Kurz darauf auch meine Kollegin. Sie berichtete folgendes: 10965 habe über Funk die Festnahmen damit begründet, dass sie von ihr, Annette, mit einem Schirm angegriffen worden sei und ich sie bespuckt habe. Mehrfach forderte sie eine erkennungsdienstliche Maßnahme an. Sinngemäß: „Ihr Begleiter kommt aus Mülheim, ein Neuberliner, von dem haben wir noch kein Foto.“

Ein Beamter sagte sinngemäß: „Oh Gott, das sind Journalisten, lass die laufen, sonst gibt es Ärger.“ Auf die erkennungsdienstlichen Maßnahmen, wie Fingerabdrücke und Fotos wurde verzichtet.

Annette berichtete weiter: Weil sie am Finger geblutet habe, habe sie um ein Taschentuch gebeten. Die Polizistin habe gesagt: „Dafür bin ich nicht zuständig.“ Annette griff nach ihrer Handtasche. Die Beamtin: „Finger aus der Tasche.“ Warum? Die Antwort: „Da könnten Waffen drin sein. Ist nicht das erste Mal, dass irgendjemand von irgendjemandem erschossen oder erstochen worden ist.“ Annette: „Glauben Sie, dass ich Sie erstechen oder erschießen will?“ Die Polizistin: „Drehen Sie mir nicht die Worte im Mund herum.“

Gegen 20 Uhr 45 waren wir wieder frei. Wir sammelten den Schirm ein: ein zersplittertes, zerrissenes Knäuel.

Markus Franz