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Nie und nimmer das Normale

■ Dirk Kurbjuweit stellt seinen schönen Debütroman vor

Ein melancholischer, feinsinnig ironischer Erstling: Präzise Nahaufnahmen eigener Erfahrungswelten, nicht virtuose Inszenierungen ausgeklügelter Sujets interessieren den Hamburger Dirk Kurbjuweit. Diszipliniert feilt er an der trefflichen Formulierung, so daß die Geschwätzigkeit ausufernder Innerlichkeit niemals aufkommt.

Der Erzähler in Kurbjuweits Debütroman Die Einsamkeit der Krokodile begibt sich auf die Suche nach einem ungelebten Leben, das ganz anders als sein eigenes verlief, aber dieselbe seelische Last durchschleppen mußte: den Terror des Gutgemeinten, Brustschild aller Eltern, die von Beginn an wissen, was gut für ihren Jungen ist. Günther, der Außenseiter eines Pfälzer Dorfes, ist bis zu seinem frühen Tod bei Vater und Mutter eingesperrt. Der Kontakt zu Mädchen wird ihm fast unmöglich gemacht. Diesen Repressionserfahrungen korrespondiert auf des Erzählers Seite der Wunsch des Vaters, den Sohn nach seinem Bilde zu formen: Sachbeamter im Stadtverkehrsamt, verantwortlich für Führerscheinantragsteller, Buchstaben Ka bis Mo.

Überm Leuchttisch erzeugt der schüchterne, aber eigensinnige Erzähler – er ist Werbegrafiker – makellose Frauen. Er übermalt Leberflecke, strafft Zellulitis und träumt den naheliegenden Recyclingtraum: Wegretuschierte Schamhaare, Setzkästen gelber Zähne und aufbewahrte Haarsträhnen versammeln sich zu einem neuen Original. Ähnliche Früchte gab es schon nach einem beruflichen Zwischenspiel in einer Zeitungsredaktion: Gestrichene „auch“-, „schon“-, „dann“-Wörter sowie Schachtelsätze und Wendungen wie „milchiger Schlafgeruch“ sollten eine zweite Chance bekommen.

Seine Recherche führt den Erzähler in ein Dorf, in dem motorenbetriebener Krach brutal mit Stille wechselt. Als er sich nach drei Tagen Lampenfieber endlich traut, die Metzgerei von Günthers Eltern zu betreten, errichten seine Worte eine Mauer zwischen ihm und Günthers Eltern: „Unser Sohn ist tot. Wir reden nicht mit Fremden über unseren Sohn.“ Nach und nach gelingt es ihm jedoch, das feindselige Schweigen zu durchbrechen, ein kleinbürgerliches Stammtischmilieu zwischen Gaststube, Schlachterei und Dorfbordell auszuheben – und die Wahrheit über Günthers Tod zu klären.

Das Alltägliche ist das ganze Buch über nie und nimmer das Normale. Auch beim Sprechen nicht: Zu Beginn des Romans diagnostiziert eine Medizinstudentin dem Erzähler eine Echolalie: „Würdest du mich retten, wenn jetzt ein Krokodil nach mir schnappte?“ fragt sie ihn. „Nach mir schnappte“, wiederholt er. Zum Ende des Romans der Satz „Aber ich liebe dich“. Die Echolalie darauf verrät den scheuen Erzähler.

Stefan Pröhl

Dirk Kurbjuweit: Die Einsamkeit der Krokodile, S. Fischer Verlag, 238 Seiten, 20,– Mark. Der Autor liest heute um 20 Uhr im Literaturhaus, Schwanenwik 38.

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