Wenn die Waage ruft

Regnet es in der chinesischen Hafenstadt Shanghai, leert sich die Promenade des Bunds, der alten kolonialen Prachtstraße neben dem Huangpufluss. Die Verkaufsstände werden geschlossen. Menschen eilen nach Hause. Nur eine elektronische Personenwaage spricht. Sie fordert hartnäckig dazu auf, das Gewicht zu prüfen. Eine Frau bleibt neben ihr sitzen. Warum? Beobachtungen aus China von Rosemarie Nünning

Die schmale Markise des geschlossenen Fotokiosks schützt nur einen Teil ihres Körpers vor dem Regen. Holzplatten hinter ihrem Rücken verbergen jetzt die immer lächelnden dunklen, hellen, blassen Gesichter, die die steinerne Uferpromenade des Bunds auf Fotopapier gespuckt hat. Wenige Menschen gehen vorbei, zusammengezogen, als könnten sie sich so der herabfallenden Nässe entziehen.

Die Maschine neben ihr – eine Stahlsäule, ein Lautsprecher hinter dem Metallgrill, ein Podest zum Betreten – ruft in die graue, feuchte Leere: Achte auf deine Gesundheit! Wiege dich! Achte auf deine Gesundheit! Eine Stimme, die der Maschine Menschliches verleihen soll.

Meistens hört sie sie nicht mehr. Sie war umgesetzt worden von der Maschine in der Textilfabrik am Rande Shanghais auf den Klapphocker neben der Maschine im Zentrum, am Rande des schmutzigen Wassers des Huangpu. Umgesetzt von den Errungenschaften des Sozialismus zu den Errungenschaften des Sozialismus chinesischer Prägung. Sie arbeitet jetzt für ihr Gesundheitsprogramm, ihren Fortschritt – für eine sprechende Waage.

Wie viele Waagen werden sie noch für das Umsetzprogramm aufstellen?

Eine Straßenfegerin kehrt nasse Papierreste in das Maul eines gewölbten Bleches, das sie an einem Stiel über das Pflaster zieht. Meistens sind es Frauen. Zu erkennen an ihren Bewegungen, nicht der Kleidung, nicht den Gesichtern, die von dem Atemschutz verdeckt sind. Geschützt vor dem aufgewirbelten Staub der Straßen. Geschützt vor dem Sprechen? Sie, die Straßenfegerin, ist auch Teil eines Programms. Für die geistige Kultur, sagen sie, für Menschen, denen ihre Arbeit genommen worden war.

Liu Jianhong darf sprechen, im Fernsehen, am Frauentag, an einem Pult neben einer kleinen roten Fahne. Die Tochter des Generals, die sagt, dass sie etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tut, die einen Preis für das bestgeführte Hotel unter den hundert großen Unternehmen bekommen hat.

Die Waage ruft. Sie könnte nach Hause gehen zu den schmalen Straßen zwischen Tower City und Tempel. Dorthin, wo die breiten Schneisen, in die alten Viertel geschlagen, noch nicht angekommen sind. Zwischen der zwanzig Stockwerke hohen chinesischen Prägung aus Stahl und Glas mit Golddächern und der chinesischen Prägung, die im Tempel, gruppiert um die Gebetsbank und den schlafenden Buddha im Glaskasten, verkauft wird: Konfuzius aus Stein, aus Bein, aus gemahlenem und gepresstem Stein, aus gemahlenem und gepresstem Bein. Oder Plastikbabybuddhas mit Sonnenbrille, deren scheußliches Grinsen sie immer an Deng Xiaopings Plakatgesicht erinnert.

Sie würde durch die Straße gehen mit dem Textilmarkt unter Plastikdächern, auf denen der Regen ausgefranste graue Flecken zeichnet, bis das Wasser schmutzige Lachen bildet und Kuhlen in die Planen drückt. Vorbei an den Jacken und Hosen unter den Planen und den grünen, violetten, schwarzen Fasern in Pulloverform aus Strickmaschinen, deren Bedienung sie gewesen war – sie, nur Frauen, gewesen waren.

Sie konnte immer noch nicht entscheiden, ob es besser war, Fasern, die ihrem herausgehusteten Schleim eine grüne, schwarze, violette Färbung gegeben hatten, zu Pullovern zu verarbeiten, oder mit der sprechenden Maschine für das Gesundheitsprogramm zu arbeiten.

Anfangs hatte sie noch über die Stimme nachgedacht. Wen forderte sie auf? Die zu leicht waren? Könnten die zu Leichten dann zwei eiserne Reisschalen fordern? Oder ruft sie die, die zu schwer sind? Meinen sie sich selbst?

Aber sie kommen nicht zu ihr, um ihr Gewicht zu prüfen. Wenn sie kommen, dann in Trauben, umringt von Schutzmännern, um zu zeigen, dass Shanghai ihnen gehört.

Als die Fabrik geschlossen werden sollte, waren sie auf die Straße gegangen. Es war zu spät gewesen, und sie waren allein. Sie waren schon einmal zu spät gewesen: Vor zehn Jahren, als sie die Nachricht erreicht hatte, dass der Traum auf dem Großen Platz unter Stiefeln und Panzern begraben worden war, hatte Shanghai, hatten sie sich dem Takt der Maschinen verweigert. Einen Tag lang konnten die bunten Fasern ihre Kehle nicht erreichen. Einen Tag lang war Shanghai nicht ihr Shanghai. Es war zu spät und dennoch anders gewesen.

Die Waage ruft.

Die sich für ein paar Jiao wiegen ließen, waren von der Stimme gelockt, deren Text die meisten nicht verstanden, weil sie aus anderen Ländern mit anderen Sprachen kamen. Es war ihr Vergnügen, wie das Bild, das sie dann von sich machen ließen, lächelnde Gesichter auf Fotopapier. Gesichter, die sie kaum wahrnahm, eher die Hand mit dem Geld und die Schuhe, Lederschuhe, auf der Trittfläche der Waage.

Sie ist hungrig. Sie könnte aufstehen und zu der Garküche in der Nebenstraße zwischen den heute noch graueren kolonialen Gebäuden auf der anderen Seite des Bunds gehen. Aus der kalten Nässe in die Schwaden, die aus den Suppentöpfen und Pfannen steigen, die die Luft tränken und aus der Tür quellen, deren Wärme nicht reicht, den Raum zu wärmen.

Sie könnte durch die engen Gassen gehen, über die schlammigen Erhöhungen zwischen den schwarzen Pfützen. Zu den in Reihen zum Trocknen ausgelegten, aus Wasser und dem Kohlestaub der Straßen geformten Briketts vor der Steinhütte. Zu dem Waschtrog vor dem niedrigen Haus, der ihre körperliche Reinigung zu einem täglichen unbeachteten Auftritt werden lässt. Zu den gelb gewordenen Kohlköpfen hinter dem Haus, die vom Wintervorrat übrig geblieben sind.

Die Frauenstimme ruft über den Bund. Nachts, im Schlaf, ruft nur sie: Wiege dich, achte auf deine Gesundheit, wiege dich, achte auf deine Gesundheit, wiege dich ... achte ... wiege ... Und manchmal mischt sie sich mit der Stimme eines Lastwagens im Rückwärtsgang: Aufpassen, dieser Wagen fährt rückwärts, auf- passen ... rückwärts ... aufpassen, oder der Männerstimme der Ampel: Du musst stehen bleiben ... jetzt darfst du gehen ... stehen bleiben ... gehen ... stehen bleiben stehen bleiben stehen bleiben.

Immer der gleiche Klang, die gleiche Tonhöhe, der gleiche künstlich lebendige, aber in Wahrheit belehrende Ton.

Die ihre Stimme gegeben hatten, waren vielleicht von der Kaderschule – dort lernten sie, so zu sprechen. Sie konnten sich immer noch sicher fühlen. Sie hatten immer noch ... immer wieder ... immer Recht.

Der Hosenstoff über ihren Knien ist aufgeweicht. Sie bleibt sitzen.

Rosemarie Nünning, 47, arbeitet seit drei Jahren in der taz als Korrektorin und Säzzerin. Die Grafikdesignerin und Einzelhandelskauffrau lebt in Berlin.