Wie ein flackerndes Licht

Der Erfolg der Potenzpille Viagra belegt, dass Impotenz häufiger vorkommt als angenommen. Erektionsstörungen beeinträchtigen nicht nur die sexuelle Erlebnisfähigkeit des Mannes, sondern auch sein Selbstwertgefühl. Für schwule Männer bedeuten sie oft das Ende des Marktwertes. Ein Beispiel, notiert von Georg Jauken

Peter Wagner* hatte jahrelange komplizierte Arrangements hinter sich, bevor er zum ersten Mal die Potenzpille Viagra einnahm. Beim Sex sah er sich stets in Erklärungsnot; er versuchte, sein Genital zu verstecken, verschob seine Prioritäten auf Kuscheln und Zärtlichkeit. Er verlegte sich auf die Rolle des passiven Mannes, obwohl er gerne aktiv gewesen wäre. Spaß hat es ihm nicht gemacht.

Jetzt hat er zum ersten Mal wieder guten Sex. Sein „Halbmast“ gehört der Vergangenheit an. Doch dieses Vergnügen ist teuer. Da Viagra als Lifestylemedikament gilt, mit dem sich vortrefflich auf dem Schwarzmarkt handeln lässt, bezahlen die Krankenkassen auch dann nicht, wenn die Impotenz, wie so häufig, die Folge einer Krankheit ist und die Patienten so jung sind wie der 30-jährige Peter.

Durch einen Pressebericht Anfang Oktober geriet sein Leben in Bewegung. Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hatte entschieden, dass eine so genannte erektile Dysfunktion (ED) als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Regelungen zu gelten hat. Der generelle Ausschluss der ED-Behandlung aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen sei unzulässig. In dem Bericht war von 7,5 Millionen Männern mit Potenzstörungen die Rede, darunter viele mit multipler Sklerose.

Daß die Kassen aufgrund der höchstrichterlichen Entscheidung auch die Kosten für die Potenzpille Viagra übernehmen müssen, ist dennoch fraglich. Weil Erektionsstörungen subjektiv sehr unterschiedlich bewertet werden, gibt es kein allgemein gültiges „sexuelles Verhaltensmodell“, nach dem entschieden werden könnte, wem wie viele Potenzpillen auf Rezept zustehen. Der zuständige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen erhält seine Bedenken wegen der mangelnden wirtschaftlichen Kalkulierbarkeit bislang aufrecht. Nicht ganz unberechtigt. Allein die Existenz der Pille hat nach Herstellerangaben zu einer Verdopplung der Behandlungen wegen Erektionsstörungen geführt.

Nach dem Urteil hegen Patienten wie Peter Wagner, aber auch manche Urologen wie der Bremer Arzt Norbert Scholz die Hoffnung, dass zumindest eine Ausnahmeregelung für die Fälle in die neuen Arzneimittelrichtlinien aufgenommen wird, in denen die Impotenz Folge einer anderen Krankheit ist. Denn, so Scholz: „Die Kombination von multipler Sklerose und Erektionsstörungen ist häufig. Besonders im fortgeschrittenen Stadium. Und noch öfter sind erektive Dysfunktionen die Folge von Diabetes oder arteriellen Durchblutungsstörungen.“ Auch Peter Wagners Erektionsstörungen sind auf MS zurückzuführen. Das ergab jüngst der Befund eines Urologen. Bis dahin hatte er noch die Illusion gehabt, es liege an seinem Lebensstil: schnell, exzessiv, stressig, 30 bis 40 Zigaretten am Tag.

Jahrelang hat er das geglaubt. Es war irgendwann nach der MS-Diagnose 1992, als er zum ersten Mal das Vertrauen in seine Männlichkeit verlor. Nur mit Sven*, seinem neuen Liebhaber, und einer engen Freundin hat er je darüber gesprochen. „Bis vor zwei Wochen habe ich gedacht, ich wäre der Einzige, bei dem das so ist.“ Ein Gefühl wie im schwulen Coming-out auf dem Land. Auch von keinem seiner Ärzte wurde er auf den Zusammenhang zwischen multipler Sklerose und Erektionsstörung hingewiesen. Mittlerweile glaubt Peter, dass dieses Problemfeld allgemein noch völlig im Dunkeln liegt. Für ihn ein Grund, jetzt offener darüber zu sprechen. Doch das Reden über seinen Defekt fällt ihm nicht leicht. Er kannte Sven erst ein paar Wochen, als er die neue Diagnose erhielt, hatte Verlustängste. Svens Reaktion war zurückhaltend. Er stellte lediglich Fragen technischer Natur: „Wie lange dauert es, bis Viagra wirkt?“ Insgesamt, meint Peter, habe sich ihre Beziehung in den vergangenen Wochen jedoch intensiviert.

Obwohl sich die beiden erst ein, zwei Monate kennen, spricht Peter von einer „festen“ Beziehung. Wunschdenken, weil ihm zuvor bei jeder Begegnung mit einem Mann die Angst im Nacken saß, sexuell nicht attraktiv zu sein. Manchmal habe es Szenen wie diese gegeben: Er war mit einem Mann in der Kabine einer Sexsauna, bis Peters Deffekt offenbar wurde und der Mann einfach ging. „Zur Ästhetik des schwulen Sex gehört ein erigierter Penis und kein 'Halbmast‘ “, sagt Peter. „Ich habe zwar Erektionen, aber die sind nicht dolle. Und sie unterliegen Schwankungen. Das ist wie ein flackerndes Licht. In Saunen habe ich nur noch den passiven Part übernommen, immer verbunden mit einem Scheißgefühl, weil ich es so eigentlich doch nicht wollte.“

Bei anonymem Sex, sagt Peter, sei es egal, wie Männer auf seinen „Halbmast“ reagieren. Dass die entstehenden Situationen aber ständig die Gefahr von Unsafe Sex bergen, ist das größere Problem. „Wenn der Kampf mit dem Kondom anfängt, ist alles vorbei.“ Als er erstmals Viagra in den Fingern hatte und merkte, dass es wirkt, habe er, überwältigt von der ganz neuen Lage, auch einige Male jemanden „unsafe gefickt“. Hinterher hat er sich gefühlt wie Dreck. Die ersten Viagrapillen hat er sich, wie er es nennt, „selber verschrieben“. Ein befreundeter Apotheker gab sie ihm. Seitdem aber die Diagnose da ist und die Hoffnung auf Besserung verflogen, gehört Peter zu den wenigen jungen Männern, die sich die Potenzpille vom Urologen verordnen lassen. Vier Tabletten kosten 107,60 Mark. Auf die Konten des Herstellers Pfizer floss bislang allein aus Deutschland der Erlös aus fünf Millionen verkaufter Pillen. Insgesamt wird Viagra in neunzig Ländern gehandelt.

„25 Milligramm reichen für einen kurzen Akt“, sagt Peter. „Manchmal bin ich großzügig und nehme 50.“ Wenn der Reiz da ist, wirkt Viagra bei ihm nach zehn, fünfzehn Minuten. Ohne sexuelle Stimulation bleibt das Potenzmittel wirkungslos. „50 Milligramm kosten fünfzehn Mark“, überschlägt er. Peter war einmal Manager. Das war noch in seinem anderen Leben.

„Bis 22 hatte ich die Biografie eines Jungpolitikers, mit Auslandsaufenthalten und Ämtern im SPD-Ortsverein. Ich war Präsident des Studentenparlaments und habe Theater gespielt.“ Dann aber: die Diagnose multiple Sklerose. Die Krankheitsschübe kamen in den ersten Jahren vereinzelt, später häufiger. Es folgten mehrere Behandlungen im Krankenhaus. Im Alltag sieht man nur manchmal an tapsigen Bewegungen, dass Peter seine Muskeln nicht unter Kontrolle hat.

Die Behinderung „Erektionsstörung“ bedeutete einen krassen Bruch. Von der „zentralen Sache der Welt“ abgeschnitten zu sein führte bei dem sonst so aktiven Mann zu einer permanenten Depression, die sich so verstärkte, dass daran Anfang 1996 eine Beziehung zerbrach. „Es war noch ziemlich neu für mich, und es war mir so peinlich. Ich musste da raus, obwohl mein damaliger Partner mich halten wollte.“ Gralf Popken vom Freiburger Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit schätzt, dass auch bei der Hälfte aller Ehescheidungen sexuelle Probleme eine wesentliche Rolle spielen.

Sex mit mir ist ungeil“ war in den nächsten Jahren Peter Wagners prägende Selbstwahrnehmung. Er zog sich aus seinen vielen sozialen Aktivitäten zurück und stürzte sich immer tiefer in die Arbeit. Er begann eine Psychotherapie – erfolglos. Anfang dieses Jahres gab er seinen Achtzigstundenjob als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens wieder auf. Sein neuer Job ist weniger stressig und lässt mehr Freiheiten. Doch die Hoffnung, ein ruhigeres Leben würde ihm im Bett mehr Stehvermögen bringen, hat sich nicht erfüllt. Das schaffte erst die blaue Pille.

Angstfrei oder gar unbeschwert ist auch seine sexuelle Beziehung zu Sven nicht. „Wir sind sehr kreativ“, versichert Peter, und mit Sven sei der Sex endlich gut. „Ich werfe nicht jedes Mal eine Tablette ein, aber ab und zu muss ich der Aktive sein – für mein Selbstwertgefühl.“ Die Angst, sexuell nicht attraktiv zu sein, die ihn jahrelang quälte, bricht sich trotzdem immer wieder Bahn. Peter reagiert sensibel auf jegliche „außereheliche“ Aktivität seines Freundes, denkt sofort: „Der holt sich jetzt, was er bei mir nicht bekommt.“

* Namen geändert

Georg Jauken, 39, lebt und arbeitet als freier Journalist in Oldenburg