Es lebt der Text und es textet das Leben

Die gegenwärtigste Gegenwart wird die literarischste Literatur. Rainald Goetz' Internet-Tagebuch „Abfall für alle“ glänzt als Roman eines Jahres zwischen zwei Buchdeckeln  ■   Von Gerrit Bartels

Am letzten Tag, dem zehnten des Jahres 1999, bedankt sich Rainald Goetz bei allen Menschen in seiner Nähe, „die dieses Diskretions-Spiel so nachsichtig mit mir spielten“ und mit ihm zusammen so taten, „als gäbe es das gar nicht“. Bei all denen also, die wussten, dass die Begegnungen mit Goetz bald auch als „Abfall“ in seinem Internet-Tagebuch verwertet würden. Ein Dankeschön, das sich wie eine Entschuldigung liest: dafür, die Freunde und Bekannten mit hineingezogen zu haben in diesen irrwitzigen Versuch, die Verantwortung für das eigene Leben durch das geschriebene Wort übernehmen zu lassen und umgekehrt das Schreiben, also die Kunst, so nah wie möglich an das Leben heranzubringen.

Die anderen aber in der wirklichen Welt, die, die Goetz nicht persönlich kannten, brauchten sich um sowas erst einmal nicht zu scheren. Die klickten sich einfach ins Internet ein, und zwar so wie man sich in Viva oder MTV einschaltete: Mal gucken, was der Rainald Goetz gestern so getan, gedacht und aufgeschrieben hat, wen er getroffen, was er gelesent und wo er sich rumgetrieben hat. Hundescheißehaufen im Wedding, der Erwerb einer Druckerpatrone, ein Brief von der Uni, die Lektüre von Luhmann, Adorno oder Sybille Berg, der Auftrag, ein paar Gedanken zu Ernst Jüngers Tod aufzuschreiben, die HaraldSchmidt Show, die Reflexionen über all das: Alles stand da gleichwertig und scheinbar ungeordnet neben- und übereinander.

Auf Seiten zu gehen, die schon etwas älteren Datums waren, übte allerdings fast immer wenig Reiz aus – „Abfall für alle“ war nichts zum Nachschlagen, nichts für die Ewigkeit, ein Fenster in ein anderes Leben halt: Da konnte man bei Bedarf länger durchgucken, das konnte man aber auch ruck, zuck! wieder schließen. Doch nun ist aus dem, was sich da mit der Zeit im virtuellen Raum wieder verflüchtigen und später auf einer CD-ROM Platz finden sollte, ein 860 Seiten dickes Buch geworden: laut Untertitel der „Roman eines Jahres“. Nun wird das, was gegenwärtigste Gegenwart sein sollte, was den Augenblick literarisch repräsentieren sollte, nun wird der Abfall, der da so schnell hingeschrieben schien, „die laufende Entwurfs-Auswurfsmaschine“, wie es einmal heißt, doch noch ein Buch: kein Tagebuch, sondern ein Roman. Literatur, wenn man so will. Und nun erzählt Rainald Goetz bei Lesungen auch von der Schwierigkeit, immer mit dem Gedanken an die täglich laufende Textproduktion aus dem Haus zu gehen. Davon, wie er gegen die Zeit nie eine Chance hatte, gegen das gelebte Leben. Aber auch davon, wie er sich jeden Tag das frisch Geschriebene und ins Netz Gestellte ausdrucken ließ und an die Wand heftete. Und da liest man dann auch Sätze wie diesen vom 16. März 1998 mit ganz anderen Augen und Gedanken: „Das Gemachte immer wieder gelesen.“ Oder eine Eintragung über die Korrekturen an alten Abfällen: „Absurdität. Dass man einmal ins Internet gestellte Sachen nicht beliebig ändern kann wieder, angeblich. Wo leben wir eigentlich?“ Und man registriert plötzlich genau den Ãrger von Goetz darüber, dass eine Korrektur misslingt und daraufhin die Korrektur der Korrektur bearbeitet werden muss. „Keine Arbeit im Weinberg der Formulierungskünste“, wie die Zeit das so formulierungssicher befand? Die „dpa-Ãsthetik des privaten Lebens, der programmatisch die Literatur ausgetrieben werden soll“?

Wohl eher das Gegenteil davon: „Abfall für alle“ ist ein Konstrukt, eine Fiktion. Der Roman seines Jahres, mit dem Rainald Goetz die Literatur nicht aus, sondern in das Leben hineinzutreiben versucht, in sein Leben. Er ist der Held, der rausgegangen ist in die Welt. Und der, wie Goetz in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen schreibt, „bereichert um Wissen und Erfahrung und niedergedrückt davon“, wieder zurückkommt, bereit, „sich abzufinden mit dem Vorgefundenen und Erlebten, mit der Welt wie sie sich gezeigt hat, und mit dem Platz, den sie ihm zugewiesen hat dabei. Bereit auch, um diese eigentlich traurige Geschichte zu erzählen und dabei zu VERWANDELN, in den Roman“.

Also rackert, ringt und kämpft Goetz tagtäglich mit den Worten und Sätzen für das Internet-Tagebuch, mit den Schriften für „Praxis“, seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, mit den Vorbereitungen für „Dekonspiratione“, einem anderen Erzählband. Mit dem, was er an Eindrücken, Erlebnissen und Gedanken des Tages ausgewählt hat. Mit den Reflexionen über seine Lektüre, anderer Leute Leben und Arbeit, und vor allem über das Schreiben an sich: Was es für eine Hölle ist, nicht schreiben zu können, dass Drogen für ihn beim Schreiben kein Gewinn sind, wie gefährlich Sprachkritik sein kann, „wie die Sprache auf eine Art eben alles ist, die automatische Perspektive des Schreibers auf die Welt“ usw. usf.

Anders als beim Surfen im Netz, beim täglichen Kontrollieren des Internet-Tagebuch (und ganz anders auch als die Medienmitschrift „1989“, einer Form von literarischer Auslöschung), funktioniert „Abfall für alle“ jetzt zwischen zwei Buchdeckeln als die große und zusammenhängende „Erzählung“ eines Schreiber-Ichs.

Mag da manchmal die Kommunikation mit den „xzillionenfachen Ichs“, mit den „schweigenden Leser-Dus“, mit den „abstrakten Dus“ die Feder geführt haben, letzlich ist es doch immer wieder nur das eine Ich, das hier unentwegt über seine Schreibprobleme, seine Schreibweisen, das Schreiben spricht. Der Schreiber, das Schreiberleben, die anderen Schreiber. Was das Buch auch davor schützt, auseinanderzufliegen, in Beliebigkeit auszufasern: Rocksongs statt elektronische Musik. Denn natürlich stehen hier haufenweise Sachen, die keiner braucht, die banal sind: Fußballergebnisse, Einkaufslisten, Wörter wie „Essen“, „Schlafen“, „Einkaufen“, natürlich die Uhrzeiten der jeweiligen Eintragungen. Doch geschwätzig wirkt das nie, fast immer ordnen sich selbst die größten Sinnlosigkeiten dem großen Masterplan von Rainald Goetz unter: Sich zu verwandeln, zu verschwinden hinter den Wörtern, in sie hineinzukriechen: Alles ist Text. Und ein Wort wie „Rattern“ und was es bedeutet, wichtiger als die Person, mit der der Erzähler darüber spricht. Wer eigentlich ist Rainald Goetz? Ein Maniac, ein Monster, ein Finger auf der Computertaste, ein Bleistift? Ein Sadomasochist? Ein Zwangsneurotiker, der nicht anders kann? Alles muss so bleiben, wie es ist, sonst geht die Sache schief. „Ich will freisein, nur freisein, freisein, nur freisein, ich will frei sein“ steht da einmal ganz in der Diktion der 3P-Posse aus Rödelheim. Ein frommer Wunsch: Zurückverwandeln ist nicht, geht nicht, darf nicht. Allerdings hat sich die Arbeit an „Abfall für alle“, dem Internet-Tagebuch, dem Buch, der Existenzweise auch schon gerächt. Denn „Deconspiratione“, die Erzählung, dessen Thema der „Verrat der Schrift“ sein soll und die lange vor „Abfall für alle“ angekündigt war, will nicht recht vorankommen. Und da liest sich dann auch das letzte Wort in „Abfall für alle“ nicht als Erleichterung darüber, das nun alles vorbei ist, sondern eher wie eine religiöse Erlösungsfantasie: „Licht“! Rainald Goetz: „Abfall für alle“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1999. 863 Seiten, 49,80 DM