Von Schülern, die Mitarbeiter sind

Lernlokale und mittags ein Drei-Gänge-Menü: Produktionsschule Altona gibt Schülern Startvorteile. Ikea ist zwar billiger, aber das macht nichts. So ist das Leben  ■ Von Sandra Wilsdorf

Ikea kostet Prinzipen: Weil das Möbelhaus billiger ist als Selbermachen, wirft Joachim Böckner heute Grundlagen über den Haufen. Statt zu hobeln, zu sägen, zu schleifen und zu bauen, fahren seine Jungs zu Ikea und kaufen Tische: „Die kosten da 160 Mark. Wenn wir sie selbermachen, kostet allein das Material 350 Mark“, sagt der Werkstattleiter und Lehrer. Das ist für eine Tischlerei ruinös. Aber: „Die Schüler sollen gleich mit den realen Bedingungen des Marktes konfrontiert werden“, sagt Böckner. Denn die Produktionsschule Altona will kein verträumtes Wolkenkuckucksheim sein, sondern sich am Markt orientieren.

Hier, in der Leverkusenstraße 13 beim Diebsteich, arbeiten und lernen seit September 40 Jugendliche in vier Werkstätten: Tischlerei, Küche, EDV und Medien. Außerdem gibt es Unterricht, Schwerpunkte sind Mathe, Deutsch, Englisch. Für ein Jahr oder zwei kommen die SchülerInnen hierher, 32,5 Stunden bei 30 Tagen Urlaub. „Wir orientieren uns an der realen Arbeitswelt“, sagt Schulleiter Thomas Johanssen, der die Idee einer Produktionsschule in Hamburg zehn Jahre verfolgt hat. In Dänemark sei diese Schulform sehr verbreitet. „Es geht um die Einheit von Lernen und Arbeiten“, sagt er. „Schüler lernen kundenorientiert und verbindlich zu arbeiten. So verschaffen wir ihnen Startvorteile.“ Vorteile für Jugendliche, deren schulische Leis-tungen eher Nachteile sind. Am Ende soll für jeden mindestens der Hauptschulabschluss stehen, „und dass sie wissen, was sie später machen sollen“.

Fatma weiß das schon: „Ich möchte später gerne mal in der Küche arbeiten.“ Das macht sie in der Produktionsschule auch, das gefällt ihr. „Ich habe die Hauptschule abgebrochen. Da waren so viele Leute, ich habe mich nicht getraut“, sagt Fatma, die vor fünf Jahren von Albanien nach Deutschland kam. Hier traut sie sich: „Die Leute sind nett“, sagt sie und nimmt eine Auflaufform aus dem Ofen: Indischer Fischauflauf. Den gibt es heute mit Bratkartoffeln, Gurkensalat und zum Nachtisch Apfelgelee mit Zimtsahne. Jeden Tag bereitet das Team zwei Mahlzeiten. Morgens ein Frühstück, mittags ein Menü.

„Ich finde es schön, mit Freunden zu frühstücken und dabei zu reden“, sagt Sema. „Überhaupt ist die Schule hier so gemütlich, und alle sind freundlich.“ Sie will den Hauptschulabschluss machen. Jetzt macht sie erstmal Bratkartoffeln.

Zweimal am Tag kommen alle im Gemeinschaftsraum zusammen. Lange – selbstgebaute – Birkenholztische, Wände in ocker, riesige Bilder mit viel Orange, Rot, Gelb an den Wänden, Pflanzen, warmes Licht und ein Tresen mit einer roten Cappuccino-Maschine. Den Raum haben SchülerInnen mitgestaltet. Und wer ihn schön findet, kann ihn mieten. Eine Schülerin sitzt vor Taschenrechner und Kochbuch: „Ich rechne Antipasti-Rezepte auf 70 Personen um.“ Am Wochenende will jemand hier Geburtstag feiern und hat ein Buffet bestellt. „Bei uns essen auch Leute, die in der Gegend arbeiten“, sagt Johannsen. Arbeiten am Markt.

Darüber diskutieren in einem Klassenraum gerade zwei Lehrer. „Wie können wir mit der EDV-Werkstatt Geld verdienen? Wie schaffen wir Pädagogisierung und Marktorientierung?“, fragt einer. Allerdings auch nicht zu viel. „Die Handelskammer hat verboten, dem ersten Arbeitsmarkt Konkurrenz zu machen“, sagt Johanssen. Trotzdem: erstmal machen. Ein Reisebüro wollen die Schüler aufbauen. „Mit Programmen für Jugendgruppen aus Dänemark“, sagt Johanssen. Da sieht er eine Marktlücke.

Klassen heißen hier nicht Klassen, sondern „Lernlokale“. Orange, gelb, blau: Jeder Raum ist anders, jeder Stuhl auch. Denn auch jeder Schüler ist anders. „Die haben sehr unterschiedliche Niveaus“, sagt Johanssen. Da ist beispielsweise Filiz. „Ich mache eine Ausbildung oder mein Abitur“, sagt sie selbstbewusst. Jetzt ist sie gerade in der EDV-Werkstatt und gibt Abrechnungen für die Schüler ein. Jeder bekommt pro Monat 300 Mark, Fehltage werden abgezogen und fürs Mittag 1,50 Mark pro Tag. „Ich habe meinen Realschulabschluss. Aber aus der Höheren Handels-schule bin ich rausgeflogen.“ Auch nach 60 Bewerbungen hatte sie noch keinen Ausbildungsplatz. „Aber hier ist es super, ich lerne ganz viel“, sagt sie.

Und dann ist da Norman. „Ich war auf einer Haupt- und Realschule. Dann war ich ein halbes Jahr krank, danach bin ich nicht mehr mitgekommen.“ Jetzt ist er in der Medien-Werkstatt. Er und Pierre arbeiten an einem „Blue Screen“. „Als Hintergrund für eine Szene.“ Die Werkstatt dokumentiert die Arbeit von Künstlern, die Wandbilder malen. „Kameramann oder Cutter, das wäre schon was“, sagt Pierre. Er war schon mal im Fernsehen, „eine kleine Rolle bei RTL“.

Norman zeigt den Trailer für die Produktionsschule, den SchülerInnen gedreht haben: Hafen, Hamburg, Schuhe, die zur Produktionsschule laufen. Angekommen. „In der alten Schule hatte ich Probleme, hier ist es harmonisch“, sagt er. Alle arbeiten an unterschiedlichen Projekten, nicht zum Selbstzweck, sondern weil andere es nachfragen. „Als nächstes produzieren wir eine Broschüre für eine Anwaltskanzlei“, sagt Norman stolz.

Aufträge gibt es genug. Deshalb auch die Ikea-Tische. „Wir haben so viele Aufträge, mit denen wir Geld verdienen, dass wir mit unserer Zeit knallhart kalkulieren“, sagt Joachim Böcker. Als Tischlerei gewinnt man gegen Ikea nicht mit Preisen, sondern mit Flexibilität und pfiffigen Ideen. Gerade haben die Schüler eine Ausstellung in den Deichtorhallen aufgebaut. „Und die Akademie der Künste wollte in eineinhalb Wochen 12 Podeste. Haben wir gemacht.“

Arbeit am Markt. Das bringt neben Geld auch Konkurrenz. „Wir diskutieren gerade, ob das Geld in einen Topf soll, oder ob jede Werkstatt es behalten kann.“ Die Tischler wollen es behalten, die verdienen am meisten. Möglicherweise soll eine zusätzliche Lehrkraft aus eigenen Mitteln bezahlt werden. „Überhaupt müssen wir über die Finanzierung nachdenken“, sagt Johanssen. Die Stadt zahlt für das Projekt 800.000 Mark im Jahr. Das reicht für drei Werkstätten. Die vierte bezahlt die Produktionsschule aus Spenden der Zeit-Stiftung. Aber das läuft in eineinhalb Jahren aus. Aber daran denken Schüler jetzt noch nicht. Die wissen nur, dass Schule gut sein kann. „Die Schule hier macht mehr Spaß, weil wir hier nicht Schüler, sondern Mitarbeiter sind“, sagt Norman.