Skat kloppen gegen die atomare Bedrohung

Fünfzig Jahre nach der Blockade proben die Berliner erneut den Ernstfall: 250 Freiwillige haben sich 24 Stunden in einen Zivilschutzbunker einschließen lassen. Doch nicht alle hielten sich an die Regieanweisungen des SFB, der das Spektakel live übertrug    ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Unter der Erde kennt sich Christoph Markus aus. Als Vierjähriger war er einen halben Tag in einem Keller verschüttet, als Achtjähriger saß er einen ganzen Tag in einem Luftschutzbunker in Kreuzberg fest. Damals trieb ihn die Suche nach Schrott um.

Mittlerweile hat der 49-Jährige ein gesichertes Einkommen als Einzelhandelskaufmann und ist nicht mehr auf ein Zubrot aus dem Verkauf von Buntmetall angewiesen. Trotzdem treibt sich der ehemalige Pfadfinder, der auch die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges besucht hat, noch immer unter die Erde herum – nicht mehr unter Einsatz seines Lebens, aber zumindest unter erheblichen Einschränkungen: Markus, der im Schnitt eine Schachtel Zigaretten pro Tag raucht, will 24 Stunden lang von den Kippen lassen. Markus, der „unleidlich“ wird, wenn er nicht satt ist, will sich mit Eintopf und Brot aus der Büchse begnügen. Markus, der sein bequemes Bett zu Hause zu schätzen weiß, ist bereit, sich auf einer schmalen Pritsche bei Notbeleuchtung einzurichten.

Christoph Markus ist einer von 250 Freiwilligen, die 24 Stunden hermetisch abgeriegelt den Notfall simulieren. Deshalb hat er am Samstag morgen kurz vor neun Uhr seine Wohnung in Berlin-Charlottenburg verlassen und sich zu dem nur 500 Meter entfernten Ku'damm-Karree begeben.

Dort wird seit Mai auf 7.000 Quadratmetern eine rasante Zeitreise durch acht Jahrhunderte geboten. „The Story of Berlin“ ist eine 20 Millionen Mark teure Ausstellung, die per Multimedia und 3D-Sound Geschichte zum Fühlen, Sehen und Hören bieten will. Nachdem die Besucherzahlen durch provokante Werbeplakate wie einem Naziaufmarsch mit Hakenkreuzen und dem Spruch „Wir sind das Volk“ auf 50.000 angestiegen ist, soll nun auch der letzte Berliner von der Geschichte zum Anfassen überzeugt werden: Eine Woche lang suchte der SFB per Fernsehspots Freiwillige, die im Zivilschutzbunker unter dem Ku'damm-Karree vergangenes Leiden nachempfinden wollen – authentisch und unter Aufsicht von Psychologen und Sanitätern.

In nur wenigen Tagen waren die Bunkerabenteurer rekrutiert. In Vorgesprächen wurden sie auf ihre Tauglichkeit geprüft und belehrt, dass es sich weder um einen „Joke“ noch um ein „Zuckerlecken“ handelt. Ihnen wurde mitgeteilt, dass es darum gehe, vor der Hintergrund einer atomaren Bedrohung über ihre alltäglichen Ängste zu reden. Hans Meierski, der „Generalbevollmächtigte“ der Ausstellung, legt die Messlatte noch etwas höher: „Ich will, dass die Mauer in den Köpfen restlos verschwindet.“ Psychologen haben zuvor versucht, verkappte Rechte, psychisch Labile und Spinner auszusortieren. Alle Teilnehmer mussten eine Erklärung unterzeichnen, dass sie bereit seien, die ganze Zeit über gefilmt und interviewt zu werden. Im Rahmen eines so genannten „Gernsehabends“ sollen sie zwischen Spiel- und Dokumentarfilmen rund um das Thema Atom zu Helden der Neuzeit werden.

Christoph Markus steht in einer langen Schlange zusammen mit für tauglich befundenen Rentnern, Hausfrauen, Religionslehrern, Auszubildenden, Schiffsbauingenieuren, Abiturienten und ihren Geschichtslehrern sowie zwei Familien mit ihren Kindern. Der jüngste Teilnehmer ist acht Jahre und trägt ein Sweat-Shirt mit der Aufschrift „American Young Hero“, der älteste ist 74 und macht in seinem braunen Trainingsanzug eine gute Figur.

Weil der Ernstfall nur ein vermeintlicher ist, sind die meisten Teilnehmer gut ausgerüstet. Auch Christoph Markus will es sich unter der Erde an nichts fehlen lassen: Luftmatratze, Schlafsack, Essbesteck, Thermoskanne, Taschenmesser, fünf Würstchen, Bonbons, Obst, Skatkarten, Radio, Plüschkatze, Rätsel- und Tageszeitungen und zu guter Letzt das Buch „Die Katakombe“ über die letzten Tage Hitlers in der Reichskanzlei. Er nutzt die verbleibenden Minuten bis zum Einstieg für eine letzte Zigarette: „Krebs oder Atomtod“, stößt er mit einer Rauchschwade aus. Geduldig lässt er die Taschenkontrolle über sich ergehen. Fazit: Das Radio muss er abgeben, die Thermoskanne darf er nach langer Diskussion behalten. „Ich nehme die doch nicht mit, um sie jemanden vor den Kopf zu hauen“, schimpft er.

Kurz bevor die Bunkertouristen die Treppen in die ehemalige Tiefgarage hinuntersteigen, die in den 70er Jahren zu einem Zivilschutzbunker für 3.500 Personen umfunktioniert wurde, hat Markus den ersten Skatpartner gefunden. Nun wartet er gespannt auf den dritten Spieler und die Bettenzuteilung.

Pustekuchen. Als sich die Türen schließen, gibt es keine Ordner, die im strengen Ton die Schlafplätze zuweisen. Jeder kann sich in dem mit Plastikplanen abgetrennten Teil der Tiefgarage seinen Schlafplatz selber aussuchen. Erstes Murren wird laut. „Ich dachte, das sei viel strenger hier“, sagt einer. Ein anderer kritisiert, dass nicht, wie angekündigt, nur ein Teil mit 250 Betten abgesperrt ist. Als die schmalen Pritschen, von denen jeweils vier an Eisenketten von der Decke herunterhängen, belegt sind, sieht es aus wie auf einer Schiffsüberfahrt. Die Fernsehkameras filmen Männer in Jogginganzügen, die Zeitung lesen, Frauen, die häkeln oder Kreuzworträtsel lösen, Auszubildende, die sich auf Prüfungen vorbereiten, verkappte Handwerker, die Betten reparieren, Sicherheitskräfte in blauen Uniformen, die die Ausgänge und Chemietoiletten bewachen.

Weil nichts zu tun ist, finden sich schnell Freiwillige für die Essensausgabe. In der winzigen Küche, in der Gulasch, zehn Jahre altes Pumpernickel-Brot in Büchsen, Wasser und Tee vorbereitet sind, wird um 13 Uhr das Mittagessen ausgegeben. Bald beschleicht die 31-jährige Krankenschwester Yvonne, die die Kelle schwingt, ein schlimmer Verdacht: Unter den Freiwilligen seien eingeschleuste Provokateure, die mit ihren Beschwerden die Nerven der anderen blank legen und „die Gruppendynamik erforschen“ sollen. Anders kann sie sich nicht erklären, dass einer schon Wasser verlangt, als sie noch am Flaschenzählen ist oder jemand permanent nach Nachschlag krakeelt. Sie kann nicht glauben, dass Christoph Markus einfach nur einen gesunden Appetit hat und Nörgler auch ohne Not meckern.

Doch in einem anderen Punkt irrt die erfahrene Krankenschwester nicht: Der Bunker ist gar nicht hermetisch abgeschlossen, wie es das SFB-Team jede Stunde live behauptet. Diverse Notausgänge werden zu Raucherecken, Hartgesottene büxen ganz aus und holen sich Kekse und Chips von draussen. Als „Beweis“ dafür präsentiert ihre Küchenkollegin Martina Scholz eine Tüte von Burger King, die sie als Corpus Delicti besorgt hat. Doch dann traut sich das aufgebrachte Küchenteam doch nicht, den Missbrauch öffentlich zu machen. Man will das Sendekonzept nicht über den Haufen werfen.

Doch es gibt auch Begegnungen, die ganz im Interesse der Organisatoren sein dürften: Ost-und Westlehrer und ihre Schüler kommen im diffusen Dunkel ins Gespräch, eine ältere Frau, die in einem hellhörigen Hochhaus lebt und auf Wohnungssuche ist, trifft auf eine Hausverwalterin, die verspricht, zu helfen. Fremde Menschen teilen sich die kleinen Essensrationen, spielen Scrabble oder singen Weihnachtslieder. Ein Rentner zeigt einer Abiturklasse Postkarten, die sein Grossvater aus dem ersten Weltkrieg an seine Großmutter geschrieben hat. Weil die Fernsehkamera nicht dabei ist, muss das Ganze noch einmal gestellt werden. „Das ist doch alles inszeniert hier“, schimpft eine junge Frau. „Es ist unglaublich, wie schnell das Thema Atom verschwindet“, merkt ein anderer enttäuscht an. Als er wenige Minuten später das Mikro vor der Nase hat, warnt er vor der elektromagnetischen Strahlung von Handys.

Am nächsten Morgen, als nach wenigen Stunden Sendepause wieder live gesendet wird, werden doch noch kritische Töne vor der Kamera laut: „Das nächste Mal sollte es nicht so larifari, sondern etwas ernsthafter sein“, traut sich Martina Scholz vom Küchenteam zu sagen. Christoph Markus indes, der sich einige Seiten durch „Die Katakombe“ gelesen und Skat gespielt hat, freut sich schon auf die Videoaufzeichnung, die seine Freundin von der Bunkernacht gemacht hat.