Neue grausame Realität – 150 Kilometer östlich

■ Nach der erneuten Erdbebenkatastrophe in der Türkei funktioniert wenigstens die Hilfe

Istanbul (taz) – Manchmal ist auch die Realität wie die Wiederholung eines schlechten Films. Doch wenn nun auf allen türkischen Fernsehkanälen Bilder von weinenden Menschen, zusammengestürzten Häusern und brennenden Stadtteilen flimmern, ist das kein Rückblick auf den 17. August – es ist neue grausame Realität.

Nur 100 Kilometer östlich vom Epizentrum des Bebens im August, hatte sich die Bruchlinie des Nordanatolischen Grabens am frühen Freitagabend um 18.50 Uhr erneut aufgetan und aus 25 km Tiefe die Erdoberfläche in einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala erschüttert. Das Zentrum des Bebens liegt dieses Mal in Düzce, einer Stadt direkt an der Autobahn Istanbul–Ankara; ungefähr 150 km östlich von Istanbul.

Das Augustbeben hatte Düzce am östlichen Rand des Epizentrums erwischt, jetzt wurde der Ort voll getroffen. Was vor drei Monaten noch stehen geblieben war, brach jetzt zusammen. Hunderte Häuser stürzten ein, zum Teil starben Leute, die erst wenige Tage zuvor aus Zelten wieder in ihre notdürftig reparierten Häuser zurückgekehrt waren, weil die Temperaturen, die nachts bereits um den Gefrierpunkt liegen, das Campen zur Qual machen.

Am schlimmsten hat es diesmal Kaynasli erwischt. Der Ort, in dem 7.000 Menschen lebten, ist nahezu vollständig zerstört. Von den rund 400 Toten sind allein in Kaynasli fast 200 zu beklagen.

Kaynasli liegt auf dem Weg von Düzce nach zum ebenfalls stark betroffenen Wintersportort Bolu, auf der höchsten Erhebung zwischen Istanbul und Ankara. In Kaynasli sind alle Häuser um den zentralen Platz herum eingestürzt. Ein Lager mit Gasflaschen explodierte und verursachte einen Großbrand, bei dem ebenfalls etliche Menschen starben. Bei dem Beben brach auch die größte Moschee des Ortes zusammen und erschlug 40 Gläubige.

Die materiellen Schäden des Bebens werden auch dieses Mal auf fast 10 Milliarden Dollar geschätzt. Dass es aber „nur“ 400 bis 500 Tote und rund 3.000 Verletzte sein werden, liegt vor allem daran, dass die Gegend um das Epizentrum nicht so dicht besiedelt ist.

Ein Grund ist aber auch, dass die Hilfsmaßnahmen diesmal ohne Verzögerung in Gang kamen. Das zentrale Krisenzentrum in Ankara war 15 Minuten nach dem Beben bereits voll besetzt und koordinierte den Einsatz der Rettungsmaßnahmen. Militär wurde sofort in Marsch gesetzt, auch die im Sommer so schmerzlich vermissten Räummaschinen sowie Verletztentransporthubschrauber waren schnell zur Stelle. „Wir haben unsere Lektion gelernt“, sagte Ministerpräsident Ecevit, der sich sofort ins Erdbebengebiet aufmachte. Seit Samstag sind ebenfalls ausländische Rettungsteams, auch aus Deutschland, im Katastrophengebiet.

Auf Grund der Kälte, sind die Chancen für Menschen, die unter den Trümmern eingeschlossen sind, jetzt noch geringer als im Sommer. Trotzdem wurden auch am Sonntagmorgen noch einige Opfer lebend geborgen. Manche Menschen waren tatsächlich zum zweiten Mal verschüttet.

Eine Frau wurde in Bolu unter dramatischen Umständen geborgen. Ihr musste ein Arm amputiert werden. Die Frau hatte bei dem ersten großen Beben in Düzce ihre Familie verloren hatte und war daraufhin nach Bolu gezogen.

Viele Menschen verbrachten die ersten beiden Nächte nach dem Beben im Freien, weil Zelte und Fertigbauhäuser erst nach und nach eintreffen. Es ist nachts in dem hoch gelegenen Bezirk Bolu bereits bitter kalt. So kalt, dass die Leute die Reste ihrer zertrümmerten Möbel verbrennen, um sich ein bisschen aufzuwärmen. Für die kommenden Tage sagen die Meteorologen Regen und Schneeregen voraus. Jürgen Gottschlich