Alles, was einem englisch vorkommt

■ Der Wunsch nach dem Echten und der Zwang zum Nachmachen: Julian Barnes liest heute im Mercado aus seiner historischen Farce „England, England“

Disneyland gilt als die größte Menschenfalle, die je von einer Maus gebaut wurde – und damit als Superlativ der Themenparkkultur schlechthin. Dass der Touristenfang mit nachgebauten Parallelwelten noch ganz andere Dimensionen annehmen kann, zeigt der englische Schriftsteller Julian Barnes in seinem neuen Roman England, England.

Ein größenwahnsinniger Medientycoon verwandelt die Isle of White zu einer Zweitversion Englands, in der das imitierte Inselreich zum gigantischen Vergnügungspark wird. So wie Sir Jack Pitman, der herrschsüchtige Schöpfer dieses England-Simulacrums, aus dem historischen Selbstbedienungsladen einer relativen Realität schöpft, zapft Barnes in seinem achten Roman den Fundus postmoderner Theorien an. Das Resultat ist eine gewagte Gratwanderung zwischen Quatsch und Kulturtheorie, postmodernem Thema und traditionellem Erzählen. Oder, in des Autors Worten: eine „Semi-Farce“.

So beschreibt Barnes mit seinem ausgeprägten Sinn für Situationskomik, wie im inselgroßen Fantasialand alles zusammengeklaubt wird, was einem irgendwie englisch vorkommt - von Big Ben und den White Cliffs of Dover über das Grab von Lady Di und das Wembley-Stadion mit dem Original-Manchester-United-Team bis hin zur Königlichen Familie, die mit dem nötigen Kleingeld zum Umzug in ein Buckingham-Palace-Replikat bewogen wird.

Niemals aber wirkt das skurrile Szenario dieses überdimensionierten Fantasialands albern oder unreflektiert: Barnes hat sein Sujet – die Unentrinnbarkeit des Kopierens, die die Authentizität zur reproduzierbaren Schimäre degradiert – bis ins Detail durchkonzipiert. So spielt der Big Boss heimlich Baby, weil er sich nach dem „authentischen Nuckelerlebnis“ sehnt – und die Inselakteure wie Robin Hood und Dr. Johnson werden schizophren, als sie ihre Rollen wirklich zu leben beginnen.

Bisweilen allerdings lässt Barnes die erzählerischen Zügel schleifen. So enttäuscht der einige Jahrzehnte später spielende Epilog mit einer nostalgischen Vision des realen Englands, das „seine Geschichte verloren“ und sich zu einem urtümlichen Agrar-Idyll zurückentwickelt hat. Doch obgleich die Mixtur aus Humor und Hintergründigkeit nicht immer glückt, bietet England, England eine geballte Ladung intelligent-ironischer Situationskomik und eine Fülle von Variationen des Replikat-Motivs. Stets lauert hinter der Slapstick-Fassade die Aporie der Authentizität: der Wunsch nach Echtheit und der Zwang zum Nachmachen. Und das ist ein Vergnügen, das einem Disneyland nicht bieten kann. Christian Schuldt

Lesung, heute, Buchhandlung Weiland, Mercado, 20.45 Uhr

Julian Barnes, England, England. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 346 Seiten, 45 Mark