Armes Berlin: Sozialhilfe statt Diäten

Erst Politiker, dann zum Sozialamt? Das ist gar nicht so schwer, schließlich haben ausgediente Volksvertreter keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Und beim Arbeitsamt gelten sie als schwer vermittelbar. Ein Lagebericht    ■ von Dorothee Winden

Sie standen im Scheinwerferlicht der Fernsehkameras, gaben Interviews, hielten Reden – kurzum: Sie waren wichtig. Doch nun droht ihnen die Bedeutungslosigkeit. Für die 93 Abgeordneten, die aus dem Abgeordnetenhaus ausscheiden, ist mit der ersten Sitzung des neuen Parlaments am Donnerstag die Zeit abgelaufen.

So mancher arbeitet bis zuletzt. Ismail Kosan, der ausländerpolitische Sprecher der Grünen, ist trotz Grippe am Montag im Büro anzutreffen. „Ich habe Termine“, sagt er mit verschnupfter Stimme. Ganz ernst fügt er hinzu: „Ich habe eine Aufgabe, die muss ich bis zum letzten Tag wahrnehmen.“ Doch Anrufer, die wegen Problemen jetzt noch um einen Termin bitten, muss er an seinen Nachfolger verweisen. „Kein Mensch kann sich vorstellen, dass ich in drei Tagen nicht mehr Abgeordneter bin“, sagt der 51-jährige Bauingenieur. Einen neuen Job hat er noch nicht.

Auch andere scheidende Grüne sind noch an ihrem Arbeitsplatz, und sei es nur, um ihr Büro leer zu räumen. Vor vielen Ex-Parlamentariern liegt eine ungewisse berufliche Zukunft. Und auch finanziell sind sie nur für eine Übergangszeit abgesichert. Da Abgeordnete von ihren Diäten kein Arbeitslosengeld einzahlen, haben sie auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe. Stattdessen steht ihnen ein Übergangsgeld zu, das sich nach der Dauer der Zugehörigkeit zum Parlament bemisst. Nach vier Jahren erhält ein Abgeordneter vier Monate lang Übergangsgeld in Höhe der Diäten, also 5.100 Mark im Monat, die zu versteuern sind. Wer nach Ablauf des Übergangsgeldes noch keinen neuen Job hat, und nicht auf Ersparnisse zurückgreifen kann, findet sich auf den unwirtlichen Fluren des Sozialamtes wieder. Vergeblich haben sich Grüne und PDS in der Vergangenheit dafür eingesetzt, dass Abgeordnete freiwillig Sozialabgaben zahlen können, um Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. „Eine solche Regelung war auf Bundesebene nicht durchzusetzen“, sagt der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Michael Haberkorn.

Der 52-Jährige gehört zu denjenigen, die als Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ein Rückkehrrecht haben – zwar nicht an den alten Arbeitsplatz, doch immerhin bei gleicher Gehaltsstufe. Drei Monate lang kann Haberkorn nun überlegen, ob er in die Sozialverwaltung zurückkehren will oder sich beruflich neu orientiert. „Ich genieße es, mal ohne schlechtes Gewissen ausschlafen zu können.“ Aber auch ihm fällt die Umstellung nicht leicht: „Ich muss erst wieder einen Rhythmus finden.“

Als Lehrer könnte der kulturpoltische Sprecher der SPD-Fraktion, Niko Sander, an seine alte Schule in Kreuzberg zurückkehren. Doch würde ihn auch eine Aufgabe im Kulturbereich reizen. Derzeit ist er als Vizepräsident des Weltjugendorchesters noch mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit ausgelastet, doch auf Dauer wäre ihm das zu wenig. „Ein bisschen ist man Workaholic geblieben“, sagt Sander. Geblieben ist auch das Bedauern, dass die eigenen Einflussmöglichkeiten mit dem Verlust des Mandats schwinden. Sander gerät ins Schwelgen, als er von der Rettung der Berliner Symphoniker spricht.

So manchem Politiker kommen bei der Jobsuche die vielfältigen Kontakte zugute, die er als Abgeordneter geknüpft hat. Darauf kann Eva Müller nicht bauen. Die 52-jährige Journalistin, die für die „Stimme der DDR“ Jugendfunk machte, hat das falsche Parteibuch. Da nützt es auch nichts, dass sie als frühere Vorsitzende des Medienausschusses gute Kontakte zu den Intendanten hat. „Die küssen mir die Hand, aber eine Stelle haben sie nicht für mich“, lacht die PDS-Abgeordnete. Sie war schon beim Arbeitsamt. „Die haben einen Schreck gekriegt. So was haben die nicht so oft. Die wussten gar nicht, was sie mit mir anfangen sollten.“ Doch dann wurde ihr ein Privileg zuteil: Der Sachbearbeiter nahm sich für den Sonderfall mehr Zeit als für einen x-beliebigen Arbeitslosen.