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: Mein Vater

■ Von Wladimir Kaminer

Als meine Mutter und ich 1990 Moskau verließen, war mein Vater heilfroh. Damit hatte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen war er stolz, in diesen schwierigen Zeiten seine Familie im sicheren Exil untergebracht zu haben. Es war eine gewisse Aufopferung dabei und alles in allem nicht leicht gewesen: Nicht jeder schaffte es.

Zweitens hatte er endlich seine Ruhe – nach dreißig Jahren Ehe – und konnte nun tun und lassen, was er wollte. Als sein Betrieb, in dem er als Ingenieur tätig war, den Geist aufgab, wie es fast alle Kleinbetriebe im postsowjetischen Frühkapitalismus taten, fand mein Vater schnell eine Lösung. Er fuhr durch die Stadt und entdeckte zwei Tabakläden mit sehr unterschiedlichen Preisen für ein und dieselben Waren.

So kaufte er vormittags in dem einen Geschäft ein und verkaufte die Sachen am Nachmittag an den anderen. Damit kam er eine Weile über die Runden. Wie ein Kind reagierte er auf alle Neuigkeiten, die die Marktwirtschaft mit sich brachte, ohne sich darüber groß zu wundern oder zu klagen. Als die Kriminalität immer ungeheurere Ausmaße annahm, nagelte er alle Fenster mit Holzplatten zu. Den Korridor verwandelte er in ein Waffenarsenal: Eisenstangen, Messer, Axt und ein Eimer für feindliches Blut lagen dort rum.

In der Badewanne hortete mein Vater die Lebensmittelvorräte. Aus der Küche machte er einen Beobachtungsposten. Die meisten Möbel zerhackte er nach und nach zu Kleinholz, für den Fall einer plötzlichen Energiekrise.

Egal, was für Nachrichten das Fernsehen brachte, meinem Vater konnten keine Perestroika-Wirren etwas anhaben. Doch auf Dauer wurde ihm die eigene Festung zum Gefängnis. Ermüdet entschied er sich 1993, ebenfalls nach Berlin zu ziehen. Zwecks Familienzusammenführung & #8211; wie das lange Wort in seinem Reisepass hieß. Hier wurde er depressiv, weil er nach dem langen anstrengenden Kampf nichts mehr zu tun hatte: wohl das Schlimmste, was einem mit 68 passieren kann.

Die süßen Früchte des entwickelten Kapitalismus einfach zu genießen war ihm zuwider. Mein Vater sehnte sich nach neuen Aufgaben, nach Verantwortung und Kampf um Leben und Tod. Wer sucht, der findet, so kam mein Vater auf die Idee, einen Führerschein zu machen. Damit war er erst einmal für die nächsten zwei Jahre beschäftigt. Dreimal wechselte er die Fahrschule. Sein erster Fahrlehrer sprang mitten im Verkehr aus dem Auto, in drei Sprachen fluchend.

Sein zweiter Fahrlehrer weigerte sich schriftlich, mit ihm im selben Auto zu sitzen. „Beim Fahren betrachtet Herr Kaminer unentwegt seine Füße“, schrieb er in einer weiteren Erklärung an seinen Fahrschulleiter. Natürlich war das eine Lüge. Es stimmte schon, das mein Vater während der Fahrt nie auf die Straße schaute, sondern nach unten. Dabei starrte er jedoch nicht auf seine Füße, sondern auf die Pedalen, um nicht danebenzudrücken. Der dritte Fahrlehrer war ein mutiger Kerl. Nachdem beide mehrere Stunden zusammen im Wagen verbracht und das ein oder andere Mal dem Tod ins Auge geguckt hatten, wurden sie wie Brüder. Der Fahrlehrer schaffte es, meinem Vater die Idee mit dem Führerschein endgültig auszureden. Dann kam wieder eine lange Phase der Depression – bis er das Berliner Seniorenkabarett in Weißensee, „Die Knallschoten“, für sich entdeckte. Dort stieg er ein. In dem neuen Programm „Kein Grund, um stillzuhalten“ (eine Satire zu aktuellen Problemen unserer Zeit, „heiter – aber bissig!“) spielt mein Vater nun den Ausländer. Ich verpasse nie eine Vorstellung und bringe ihm stets frische Blumen mit.