Zweimal ausgecheckt und zurück

Die Regierungen in Peking und Washington einigen sich überraschend auf den Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation (WTO)  ■   Aus Peking Georg Blume

Noch weiß niemand vom bevorstehenden Beitritt der Volksrepublik in die Welthandelsorganisation, als sich am Montagmorgen in der neuen Bibliothek der Peking-Universität chinesische und amerikanische Manager und Akademiker zur „Konferenz über Chinas Zukunft im Internet“ versammeln. US-Firmen wie Motorola und Hewlett-Packard, die in den letzten Monaten hart für den WTO-Beitritt Chinas gelobbyt hatten, sind bei dem bislang einmaligen Internetforum die heimlichen Drahtzieher. „Niemand versteht mehr die chinesische Politik“, erklärt Jim Gradoville, Vizepräsident von Motorola in China. „Unsere Konferenz soll deshalb die Meinungen ventilieren.“

Ein paar Stunden später hat sich der Auftrag erledigt. Im Bibliothekssaal achtet niemand mehr auf das Handyverbot, als die Neuigkeiten über das sensationelle WTO-Abkommen durchsickern. Peking und Washington sind sich einig geworden.

Nun sollen die weltwirtschaftlichen Gesetze von Motorola und Hewlett-Packard auch in China gelten. Auf dem Universitätspodium findet ein berühmter Altmeister der chinesischen Reformpolitik, Professor Zhou Qiren, als Erster die Sprache wieder: „China muss keine Angst vor ausländischen Investitionen haben. Heute verbietet die Regierung die Aktivitäten der Falun-Gong-Sekte. Aber Falun Gong hat mit ausländischen Investitionen nichts zu tun“, sagt er unter stürmischem Applaus.

Die Anspielung auf die aktuelle Repressionskampagne der Regierung gegen eine fundamentalistische Sekte ist nicht als deren Rechtfertigung misszuverstehen. Vielmehr lenkt Qiren in der historischen Stunde die Debatte auf das verminte politische Terrain – und will nichts anderes sagen, als dass die Unterwanderung des kommunistischen Systems durch die globale Marktwirtschaft effektiver sein wird als die durch neue chinesische Heilsprediger.

So sieht es auch Bill Clinton. Das Abkommen mit Peking sehe die Öffnung der chinesischen Märkte für US-Unternehmen vor, sagte der amerikanische Präsident gestern während seines Türkei-Besuchs in Ankara. Die Vereinbarung werde Firmen, Arbeitern und Bauern in den USA neue Wettbewerbsmöglichkeiten bringen und den Wohlstand der chinesischen Bevölkerung erhöhen. Nach einer langen Reihe von Rückschlägen kann Clinton zum ersten Mal wieder einen Erfolg seiner China-Politik nachweisen. Und was für einen! China als Hüter einer weltwirtschaftlichen Marktordnung – das klingt nach 50 Jahren KP-Regime wie ein Sommernachtstraum.

Ganz außer sich telefoniert Jim Gradoville mit der amerikanischen Botschaft in Peking. Der Motorola-Mann war selbst acht Jahre lang im Washingtoner Handelsministerium tätig. In seiner Branche, dem Telekommunikationsbereich, stagnierten die Verhandlungen bis zum Wochenende. Zweimal hatte die amerikanische Handelsministerin Charlene Barshefsky schon ihre Koffer gepackt und im Hotel ausgecheckt und war wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt. „Das war wie auf dem Pekinger Markt“, meint Gradoville. „Da verlasse ich auch immer den Obststand, bevor ich dann doch noch ein Kilo Birnen kaufe.“

Das Verhandlungsergebnis sichert Gradoville auf Jahre den Job in Peking: China will fortan ausländische Beteiligungen auf dem Telekommunikationsmarkt von bis zu 49 Prozent erlauben. Nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren können die Beteiligungen auch auf 50 Prozent steigen. Bisher gab es in dieser Branche nur wenige Sondergenehmigungen für ausländische Investoren. Aus der Neuregelung resultiert nach Einschätzung der Konferenzteilnehmer in Peking fast zwangsläufig die Bereitschaft, ausländischen Firmen auch im Internetbereich Investitionschancen einzuräumen – eine Niederlage für das mächtige chinesische Informationsministerium, das bisher Ausländer vom Internet fernhalten wollte.

An dieser Stelle offenbart sich die politische Tiefenwirkung des WTO-Abkommens. „Warum können wir Chinesen uns nicht auf die wichtigen Dinge konzentrieren – so wie die Leute in Silicon Valley und so, wie wir uns früher auf den Klassenkampf konzentriert haben?“, fragt Reformerstar Zhou Qiren in der Peking-Universität und gibt selbst die Antwort: „Wir brauchen in China einen klaren gesetzlichen Rahmen für den Gebrauch des Internets.“

Um nichts anderes geht es neben den großen Verhandlungsfeldern Landwirtschaft, Automobilindustrie und Bankwesen auch bei der WTO-Einigung: Sie unterwirft die Volksrepublik den gültigen Rechtsnormen der Weltwirtschaft, die jedem Unternehmen die Freiheit einräumen, sich auf die Informationsgesellschaft zu konzentrieren – so, wie sich die Kommunisten einst auf den Sozialismus konzentrierten.

Doch mit dem neuen Kurs könnte China glücklicher fahren. Chinas Handelsminister Shi Guangsheng äußerte die Hoffnung, dass China noch in diesem Jahr aufgenommen werde.

Vertreter beider Staaten hatten in Peking sechs Tage lang verhandelt. Das Abkommen sei ein äußerst wichtiger Schritt in den Beziehungen zwischen den USA und China, sagte Clinton. Auch die Weltwirtschaft werde davon profitieren. Auf der Grundlage dieser Vereinbarung werde er sich dafür einsetzen, dass China nun zügig in die WTO aufgenommen werde. Außerdem werde er versuchen, den US-Kongress von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass beide Staaten normale Handelsbeziehungen zueinander aufnehmen, und dessen Billigung des Abkommens zu erreichen.