Rollende Schreibwerkstatt

■ Das Institut für kreatives Schreiben bittet Kids auf der U 2 zur Feder. Die frisch gestrickten Texte werden am Alex vorgelesen

Kinder! Wer mag sie nicht gern, die niedlichen Racker. Solange wir sie in überschaubaren Gruppen antreffen, ist jedenfalls alles in Ordnung. Doch wehe, wir sitzen nach Schulschluss zufällig in der U-Bahn, der Mob poltert lärmend in den Waggon, die Türen schließen sich. Wir wissen nicht, was die Lehrer in den letzten Stunden mit ihnen angestellt haben, aber es scheint so ernst zu sein, dass die jungen Mitbürger ihre Vormittagserlebnisse nur durch lautes Schreien und Zetern verarbeiten können.

Umso größer ist seit Anfang dieser Woche das Staunen bei den Fahrgästen der Linie U2 zwischen Ruhleben und Vinetastraße. Hoch konzentriert sitzen dort von 9 bis 13 Uhr Schülerinnen und Schüler und bohren sich friedlich mit dem Stift im Ohr, immer auf der Suche nach dem rechten Wort, um dann schließlich mit kratzender Feder den Geistesblitz zu Papier zu bringen. Das ist keine normale U-Bahn-Fahrt, es ist die „rollende Schreibwerkstatt“. Die Aktion hat sich das Institut für Kreatives Schreiben (IKS) ausgedacht.

Kreatives Schreiben ist eine Methode, um die schriftstellerische Fantasie anzuregen. Der Kursleiter gibt zum Beispiel das Thema („Stoßgebet am Buß- und Bettag“) oder das Genre („Rap des U-Bahn-Fahrers“) vor und erleichtert Schreibblockierten so den Einstieg. In den Vereinigten Staaten kann man sowas an der Uni studieren.

In der „rollenden Schreibwerkstatt“ wird das Transportmittel zur Quelle der Inspiration. Organisator Claus Mischon vom IKS: „Die Menschen in der U-Bahn sind interessant, die Technik ist interessant, die Atmospäre ist interessant. Die Themen liegen praktisch auf der Schiene.“ Auf das griffige Motto „Aufreizende Gedichte statt aufgeschlitzte Sitze, beschriebenes Papier statt beschmierter Rahmen, kritzeln statt zerkratzen“ stiegen die BVG und einige Sponsoren sofort ein: „Den Schülern“, erklärt Mischon in einem Anschreiben an die Lehrer, „entstehen keine Kosten, außer für eventuelle Toilettenbenutzung auf dem Alexanderplatz.“ Zweitausend Schüler haben sich für die Aktion angemeldet, aber längst nicht alle können mitmachen – nur sechshundert Plätze stehen zur Verfügung, und ursprünglich waren sogar nur dreihundert geplant.

Die frisch gestrickten Texte können Passanten sich bis zum 19. November jeden Tag vor dem BVG-Shop im Verbindungstunnel zwischen U8 und U2 am Alexanderplatz aus erster Hand anhören. Jeweils von 11.45 bis 12.00 Uhr und von 12.45 bis 13.00 Uhr lesen die jungen AutorInnen aus den eben erst verfassten Texten. Am 26. November steigt in der Werkstatt der Kulturen, Wissmannstr. 26, von 10.00 bis 12.00 Uhr die Abschlusspräsentation.

P.S. Zu Anfang dieses Artikels hieß es, Reisende würden sich über die ruhigen jungen Leute wundern. Das war freilich literarisch überhöht: In Wirklichkeit kommen beide Seiten nicht so richtig in Kontakt. Die Literaten reisen im eigenen Waggon. BVG-Sicherheitskräfte bitten die anderen Fahrgäste, freundlicherweise die übrigen Wagen zu besteigen.

Martin Kaluza